„Wir sind umzingelt von Wirklichkeit.“ Vielleicht wird es, abgesehen von Verheerungen und Ruhegeldansprüchen, dieser Satz sein, der von der Ampelkoalition bleibt. Robert Habeck krönte damit den Abschiedstalk von Anne Will.

Auf meiner geistigen Leinwand entsteht das Ölgemälde einer Schar Aufrechter, die auszog, das Reich der Träume zu errichten; eine Zeit, in der das Wünschen wieder hilft. Doch ach, sie finden sich in einer Kesselschlacht mit schnöden Realitäten, vornweg Gesetze der Ökonomie und der Physik. Können die Visionäre dem von allen Seiten anstürmenden Feind länger standhalten als Generalfeldmarschall Paulus in Stalingrad?

Was ich Habeck halbhoch anrechne: Er mag vom Benehmen der Wirklichkeit enttäuscht sein. Er mag kein Verständnis dafür haben, dass sie die moralische Überlegenheit seiner Pläne weder anerkennen noch sich beschämt vom Acker machen will. Aber er scheint die Existenz einer von seinen Vorstellungen abweichenden Sachlage immerhin einzuräumen. Wer Saskia Esken auf dem SPD-Parteitag lauschte, weiß, dass es auch anders geht.

Witzig: In der Pandemie galt das Grundgesetz nicht, nun mit der Schuldenbremse aber schon

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Merz-Sätze zur Migration: Warum der CDU-Chef ein unterhaltsamer Kanzler wäre

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Fünf von sechs Deutschen sind mit der Regierung unzufrieden. Sie gehören zur Habeck bedrängenden Wirklichkeit. Für meinen Fall wäre „unzufrieden“ schüchtern formuliert. Zwar erkenne ich die Regierung als faktische Gegebenheit, als tatsächlich vorhanden an. Doch es gibt Phasen, da erscheinen mir ihre Hervorbringungen so jenseitig, dass mir Zweifel kommen, ob ich das wirklich gerade erlebe: sei es nun wegen Wärmepumpen, beim Selbstbestimmungsgesetz oder seit man hiesige Atomkraftwerke abschaffte und für das Funktionieren der französischen Meiler betet.

Neulich gab es wieder so einen Das-kann-doch-alles-nicht-wahr-sein-Moment. Vergleichsweise trivial, aber typisch. Das Auswärtige Amt verbreitete ein Bild, auf dem die Kabinettsmitglieder Lemke, Schulze, Baerbock, Habeck und Scholz ausgelassen mit Broschüren wedeln. Darin die Klimaaußenpolitikstrategie, „die umfassendste Strategie weltweit“.

„Ein Zeichen an die Welt, dass Deutschland als solidarischer Partner vorangeht“, stand unter dem Foto. „Wir senden ein Zeichen in die Welt, dass wir vorangehen“, redundierte Baerbock auf X. Eine Spiegel-Schlagzeile sekundierte: „Wie Deutschland die Energiewende in die Welt tragen will.“ Gott, was ist mit diesen Leuten los? Merken die nicht, dass ihre Attitüde zu Hause bestenfalls Gespött auslöst und auswärts Mitleid?

Bei der Migrationspolitik reitet Deutschland schon ewig kühn voran und wartet auf ein Gefolge. Das Land verfeuert gerade so viel Lausitz wie lange nicht, hat mit den dreckigsten Energiemix und den höchsten Strompreis, rechnet aber fest damit, dass die Welt seinem Beispiel folgt. Dieser Staat kriegt keinen verfassungsgemäßen Haushalt gebacken. Die Pisa-Studie bescheinigt ihm, dass der Verstand seiner Bürger keine nachwachsende Ressource ist. Wer sich da nicht selbst sortiert, sondern meint, der Welt unbedingt den Weg weisen zu müssen, spürt die Wirklichkeit nicht mehr. Nicht mal als Umzingelung.

Solche Entrücktheit nimmt selbst mir den Atem, der ich bezeugen kann, wie einst die Avantgarde dem Proletariat so tolldreist voranschritt, dass selbiges ihr unterwegs abhandenkam. Die Partei – Vorhut der Arbeiterklasse: Der Slogan wurde damals gern verballhornt. Deutschland ist die Vorhaut der Völkergemeinschaft.

QOSHE - Würgegriff der Wirklichkeit - André Mielke
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Würgegriff der Wirklichkeit

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12.12.2023

„Wir sind umzingelt von Wirklichkeit.“ Vielleicht wird es, abgesehen von Verheerungen und Ruhegeldansprüchen, dieser Satz sein, der von der Ampelkoalition bleibt. Robert Habeck krönte damit den Abschiedstalk von Anne Will.

Auf meiner geistigen Leinwand entsteht das Ölgemälde einer Schar Aufrechter, die auszog, das Reich der Träume zu errichten; eine Zeit, in der das Wünschen wieder hilft. Doch ach, sie finden sich in einer Kesselschlacht mit schnöden Realitäten, vornweg Gesetze der Ökonomie und der Physik. Können die Visionäre dem von allen Seiten anstürmenden Feind länger standhalten als Generalfeldmarschall Paulus in Stalingrad?

Was ich Habeck halbhoch anrechne: Er mag vom Benehmen der Wirklichkeit enttäuscht sein. Er mag kein Verständnis dafür haben, dass sie die moralische Überlegenheit seiner Pläne weder anerkennen noch sich beschämt vom Acker machen........

© Berliner Zeitung


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