Es gibt wie fast immer eine gute und eine schlechte Nachricht aus Köpenick. Die schlechte: Marco Grote hat als Trainer eines Fußball-Bundesligisten noch kein Spiel gewonnen. Dann erscheint die gute nach dem 1:1 des 1. FC Union im November vorigen Jahres im Heimspiel gegen den FC Augsburg als nahezu logisch: Er hat nämlich auch noch kein Spiel verloren. Sollte der neuerliche Interimstrainer – zuerst als Aushelfer für Urs Fischer, kein halbes Jahr später als Über-Nacht-Lösung für den Knall auf Fall entlassenen Nenad Bjelica – seine Bilanz nach dem Spiel der Eisernen am Sonnabend, 15.30 Uhr, beim Tabellenvorletzten 1. FC Köln behalten, dann hätten die Köpenicker zumindest ein winziges Ziel erreicht. Sie könnten nicht mehr direkt absteigen.

Dass die Männer aus dem Berliner Südosten überhaupt derart in die Bredouille gekommen sind, ist eine lange Geschichte. Sie fängt, wenn man so will, mit einem Märchen an. Nicht mit dem Aufstieg vor gut fünf Jahren, obwohl schon das eines der größten der Vereinshistorie ist. Als Aufsteiger, zumal als jungfräulicher, vergisst man ja nie den Blick in den Rückspiegel. Deshalb war der vorzeitige Klassenerhalt, zwei Spieltage vor Saisonende mit einem 1:0 gegen den damaligen Mitaufsteiger Paderborn dingfest gemacht, der Punkt auf dem i für das Premierenjahr. Fortan jagte ein tolles Kapitel das nächste. Der Erfolg kannte keine Grenzen und die Euphorie schwappte über. Das Motto dieser Phase konnte nur heißen: Genieße den Moment!

Danach ist irgendetwas passiert, das so wenig erklärbar ist wie der vorhergehende Höhenflug. Länger als in den Sommern davor benötigten Oliver Ruhnert, der Manager, und Urs Fischer, der Trainer, dafür, ein Team zusammenzustellen. Deutlich später als sonst wurden neue Spieler verpflichtet. Robin Gosens, immerhin deutscher Nationalspieler, und vor allem Leonardo Bonucci, aktueller Europameister, kamen auf den letzten Drücker. Die Integration der Neuen in das eiserne System, sonst ein Faustpfand, verlief schleppend bis gar nicht.

Den Spagat zwischen Alltag und Jubeltag, zwischen Bundesliga und Champions League, wollten sie hinbekommen. Etwas, das sie zuvor mit Conference und Europa League in merklich kleineren Dimensionen gestemmt hatten und sich gewappnet wähnten für den Königswettbewerb der europäischen Klubmannschaften. Immer in dem Glauben, wie immer alles bedacht und sich rückversichert zu haben. Von Auf-die-leichte-Schulter-nehmen keine Spur. Im Gegenteil. Exakter, eigentlich pingeliger wurde alles besprochen, aufgeschrieben, wiederholt, überprüft. Auch weil die Uefa, der europäische Fußball-Dachverband, gerade in seiner Königsdisziplin keinen Millimeter Abweichung in seinen Regularien duldet.

Trotzdem schien alles wie sonst. 4:0 zum Auftakt des Pokalwettbewerbs bei Astoria Walldorf. Ein Regionalligist zwar nur, aber gut: Geputzt ist geputzt. Ein Jahr davor hatte es mit einem 2:1 nach Verlängerung beim Chemnitzer FC, längst ein ebenso durchschnittlicher Viertligist wie die Süddeutschen, signifikant holpriger begonnen. Erst recht glaubten alle nach den 4:1-Triumphen gegen Mainz und in Darmstadt an eine Fortsetzung der Erfolgsgeschichte. Der Berliner war klar in seinem Urteil: Et looft! Et lief aber jar nüscht. Höchstens aus dem Ruder. Zumindest was die Resultate angeht.

Sage und schreibe 18 Niederlagen in der Liga später (nur der schon feststehende Absteiger Darmstadt hat mit 21 mehr Spiele verloren) geht die Angst um in Köpenick. Ein nie für möglich gehaltenes Szenario droht. Die 50.000-Zuschauer-Arena in Köln-Müngersdorf ist die vorletzte Ausfahrt, um den Eisern-Tross sportlich nicht komplett gegen die Wand brettern zu lassen. Zu spät ist es nicht, den Crash zu vermeiden. Schwer genug aber wird es nach zuletzt sechs Spielen ohne Sieg und nur zwei Pünktchen aus den Nullnummern in Frankfurt und in Mönchengladbach.

09.05.2024

•gestern

09.05.2024

Drei Szenarien sind möglich für die Eisernen, und eine Nervenkiste wird es allemal. Vielleicht ja bis zur allerletzten Sekunde der Nachspielzeit am 18. Mai.

Erstens: Es droht der direkte Abstieg. Dazu müsste der 1. FC Köln, der zum Abschluss in Heidenheim zu Gast ist, beide Spiele gewinnen, der 1. FC Union auch sein letztes Heimspiel gegen Freiburg in den Sand setzen und seine um fünf Treffer bessere Tordifferenz gegenüber den Domstädtern einbüßen. Die ist, da muss man kein Mathematikgenie sein, bei zwei Niederlagen hier und zwei Siegen dort fix futsch.

Zweitens: Relegation. Sie kann ebenso Rettung sein wie Reinfall. Einmal ein derartiger Trip zwischen Himmel und Hölle, nämlich der von 2019, reicht. Weil: Ende offen. Mit einem Punkt schon, ob am Sonnabend in Köln oder eine Woche später gegen Freiburg, reicht es für diese zusätzliche Runde. Nur ist das nicht der Anspruch.

Der ist, drittens, mindestens Platz 15 und die Sicherung des sechsten Spieljahres Bundesliga am letzten Spieltag. Dieses Szenario haben die Männer um Kapitän Christopher Trimmel, den 37-jährigen Oldie und letzten Aufstiegshelden, noch immer in der eigenen Hand. Am einfachsten ginge das mit zwei Siegen. Dann wäre Köln bereits einen Spieltag vor Ultimo unten, und Mainz könnte sich sonst wie abstrampeln, käme dennoch nicht vorbei.

Wie verrückt, nahezu bizarr und vor allem nervenaufreibend es auch gehen könnte, macht folgendes Beispiel deutlich. Dabei sind graue Haare, Nervenzusammenbrüche, Herzstolperer und Schweißausbrüche fast gesetzt: Die Eisernen, schlimm genug, verlieren beide Spiele. Beide aber nur mit jeweils einem Tor Differenz. Die Kölner gewinnen neben ihrer Heimpartie gegen den 1. FC Union auch beim längst geretteten Neuling Heidenheim mit einem Treffer Unterschied. Die Köpenicker wären bei Punktgleichheit um ein Tor besser. Verliert dann auch noch Mainz beide Partien, wäre der aktuelle Tabellensechzehnte der Gelackmeierte. Der muss zunächst gegen Borussia Dortmund ran, das aus dem vorigen Jahr mit den Nullfünfern noch eine delikate Rechnung offen hat. Damals versaute der selbsternannte Karnevalsverein dem BVB in dessen Stadion mit einem 2:2 im letzten Spiel den so gut wie sicheren Titelgewinn. Das vergisst bei der Borussia so schnell niemand. Zumal die Westfalen nach ihrem Einzug ins Finale der Champions League, in dem sie am 1. Juni auf Real Madrid treffen, auf einer Welle der Euphorie surfen. Auch beim VfL Wolfsburg, zu dem die Mainzer zum Abschluss müssen, haben sie nicht allzu häufig gepunktet.

Es geht aber noch viel besser für die Unioner. Nur muss nach Möglichkeit der Fußballgott mitspielen oder zumindest auf der Bank sitzen. Gewinnen die Eisernen in Köln und verliert Mainz gegen den BVB, könnten die Männer aus dem Stadion An der Alten Försterei schon vor dem Schlusstag durchatmen.

Was das für sie heißt? Erst einmal nur das: Selbst ist der Eiserne! Für das eigene sportliche Wohl sollten die Schützlinge von Noch-einmal-Interimstrainer Marco Grote selber sorgen. Womöglich bleibt Köln ja eine der wenigen Konstanten aus der Vergangenheit. Gegen das Geißbock-Team haben die Köpenicker in der Bundesliga nie verloren und in Müngersdorf erst einmal, bei einem 2:2 im November 2021, Punkte gelassen.

Das lässt hoffen. Nur haben die Fischer-Bjelica-Grote-Schützlinge in diesem Spieljahr schon viel dafür getan, positive Serien platzen zu lassen. Allein das Beispiel VfB Stuttgart sollte Warnung sein. Gegen die Schwaben waren seit der Relegation Siege, mindestens aber Punktgewinne, fast schon eine Selbstverständlichkeit. Bis zu dieser Saison und der Offenbarung zweier Niederlagen um Punkte (0:3 zu Hause, 0:2 im Ländle) und einer dritten, einem 0:1, im Pokal.

Im Abstiegskrimi der beiden schwächsten Offensiven – die Eisernen haben 29 Treffer erzielt, die Geißböcke 24 – ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Abwehrreihen dominieren. In der Defensive haben die Köpenicker beim jüngsten 3:4 gegen Bochum zwar geschludert, fast schon amateurhaft haben sie sich bei den Gegentoren angestellt, ansonsten aber war das Gebilde um Kevin Vogt, Danilho Doekhi, Diogo Leite und ab und an wieder Robin Knoche, vor allem aber mit Frederik Rönnow zumeist der stabilste Mannschaftsteil.

Gerade auf dem Schlussmann ruhen große Hoffnungen. Obwohl die Saison bislang eher eine zum Vergessen ist, hat der Däne bereits in sieben Partien die Null gehalten. Besser sind nur Lukas Hradecky vom neuen Meister Bayer Leverkusen mit 14 weißen Westen, Freiburgs Noah Atubolu (10) und Stuttgarts Alexander Nübel (9). Es wäre für Rönnow ein starkes Signal, als Meister der achten und neunten Null mit Danish Dynamite zur am 14. Juni beginnenden Europameisterschaft zu gehen.

Soweit die Theorie. Wichtig ist wie immer immer allein auf dem Platz!

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QOSHE - 1. FC Union Berlin vor dem Spiel gegen Köln: Langsam geht es um alles - Andreas Baingo
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1. FC Union Berlin vor dem Spiel gegen Köln: Langsam geht es um alles

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11.05.2024

Es gibt wie fast immer eine gute und eine schlechte Nachricht aus Köpenick. Die schlechte: Marco Grote hat als Trainer eines Fußball-Bundesligisten noch kein Spiel gewonnen. Dann erscheint die gute nach dem 1:1 des 1. FC Union im November vorigen Jahres im Heimspiel gegen den FC Augsburg als nahezu logisch: Er hat nämlich auch noch kein Spiel verloren. Sollte der neuerliche Interimstrainer – zuerst als Aushelfer für Urs Fischer, kein halbes Jahr später als Über-Nacht-Lösung für den Knall auf Fall entlassenen Nenad Bjelica – seine Bilanz nach dem Spiel der Eisernen am Sonnabend, 15.30 Uhr, beim Tabellenvorletzten 1. FC Köln behalten, dann hätten die Köpenicker zumindest ein winziges Ziel erreicht. Sie könnten nicht mehr direkt absteigen.

Dass die Männer aus dem Berliner Südosten überhaupt derart in die Bredouille gekommen sind, ist eine lange Geschichte. Sie fängt, wenn man so will, mit einem Märchen an. Nicht mit dem Aufstieg vor gut fünf Jahren, obwohl schon das eines der größten der Vereinshistorie ist. Als Aufsteiger, zumal als jungfräulicher, vergisst man ja nie den Blick in den Rückspiegel. Deshalb war der vorzeitige Klassenerhalt, zwei Spieltage vor Saisonende mit einem 1:0 gegen den damaligen Mitaufsteiger Paderborn dingfest gemacht, der Punkt auf dem i für das Premierenjahr. Fortan jagte ein tolles Kapitel das nächste. Der Erfolg kannte keine Grenzen und die Euphorie schwappte über. Das Motto dieser Phase konnte nur heißen: Genieße den Moment!

Danach ist irgendetwas passiert, das so wenig erklärbar ist wie der vorhergehende Höhenflug. Länger als in den Sommern davor benötigten Oliver Ruhnert, der Manager, und Urs Fischer, der Trainer, dafür, ein Team zusammenzustellen. Deutlich später als sonst wurden neue Spieler verpflichtet. Robin Gosens, immerhin deutscher Nationalspieler, und vor allem Leonardo Bonucci, aktueller Europameister, kamen auf den letzten Drücker. Die Integration der Neuen in das eiserne System, sonst ein Faustpfand, verlief schleppend bis gar nicht.

Den Spagat zwischen Alltag und Jubeltag, zwischen Bundesliga und Champions League, wollten sie hinbekommen. Etwas, das sie zuvor mit Conference und Europa........

© Berliner Zeitung


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