Als ich am Montagmorgen die Nachrichten hörte, schoss mir ein Begriff durch den Kopf, den ich das letzte Mal vor mehr als 30 Jahren gehört hatte: „Revolutionäre Situation“.

Spitzenmeldung war der Aufstand der Bauern, die für diesen Tag angekündigt hatten, Autobahnen und Straßen lahmzulegen. Es folgte der Streik der Lokführergewerkschaft: keine Bahnen ab Mittwoch im ganzen Land. Die dritte Meldung war die Gründung der Sahra-Wagenknecht-Partei, einem linken Bündnis, dem – Umfragen zufolge – mehr als 30 Prozent der Deutschen ihre Stimme geben würden.

Ich trank Kaffee, beantwortete Mails, aber die Nachrichten ließen mir keine Ruhe. Ich wurde das Gefühl nicht los, das in den letzten Wochen immer wieder aufgetaucht war: Das sind nicht die üblichen Proteste und Streiks, die mit den üblichen Verhandlungen und Versprechungen enden. Das ist anders, größer, gefährlicher: ein Volkszorn, der einen Staat zum Sturz bringen könnte.

Mein Mann kam in die Küche. Ich fragte ihn, was wir in dem Land, das am Ende selbst dem Volkszorn zum Opfer fiel, gelernt hatten. Revolutionäre Situation? Hieß das nicht so? Wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen? Er nickte, musste aber schnell los, ins Stadtbad, wo sich die neue Partei gründete. „Auto oder Rad?“, fragte er. Wo sind nochmal die Straßensperrungen?

Im Radio lief ein Interview mit der Grünenpolitikerin Renate Künast, die von einem Bauern-Mob sprach und die Landwirte aufforderte, an „konstruktiven Lösungen“ mitzuarbeiten. Mob? Konstruktive Lösungen? Hatten nicht auch so die Politiker des untergegangenen Landes geredet, bevor das Volk sie aus ihren Amtsstuben jagte? Ein Kommentator warf den Bauern vor, in der höchstsubventionieren Branche des Landes zu arbeiten. Tja, dachte ich. Subventionen. Haben damals auch nicht geholfen.

In der Redaktionskonferenz diskutierten wir darüber, ob die Proteste von Rechten und Radikalen „unterwandert“ seien. Der Ost-Kollege aus dem Feuilleton grinste. Unterwandert. Kam ihm bekannt vor. Ein anderer Kollege berichtete, er sei auf dem Weg ins Büro auf eine Kolonne von Brandenburger Handwerkern gestoßen, die sich mit den Bauern solidarisierten. Sie hätten nicht mit ihm gesprochen.

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07.01.2024

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Ich dachte an eine Weihnachtsfeier, bei der mir eine Ärztin sagte, sie lese kaum noch Zeitung, höre kein Radio mehr. Zu staatstreu, zu ideologisch. Und an den Gastgeber der Feier, der meinen Mann und mich mit den Worten begrüßte: „Journalismus, macht ihr das immer noch?“ Oder an die Frau, die mir auf der Silvesterfeier sagte, ihr bleibe wohl nichts anderes übrig, als die AfD zu wählen. Es sei die einzige Partei, die sie, als Ungeimpfte, in der Pandemie nicht diskriminiert habe. Ich kenne die Frau, sie ist nicht rechts, nicht gefährlich, nur verzweifelt.

Das Land steht kopf. Und das Jahr hat gerade erst begonnen, die Woche auch. Wie wird es am Freitag aussehen? Wie groß wird die Wut noch werden? Die der Bauern, Lokführer und Handwerker, aber auch derjenigen, die nicht zur Arbeit, zur Schule oder ins Krankenhaus kommen, weil die Bahn nicht fährt oder die Straßen gesperrt sind. Wie werden die Politiker reagieren? Wann werden sie die Sorgen der Leute ernst nehmen, statt sie als rechts zu beschimpfen?

Ich habe im Internet nachgeguckt. Eine revolutionäre Situation nennt man – nach Lenin und Marx – den Auslöser einer Revolution, in der sich die offene Empörung ausgebeuteter Massen Bahn bricht. Zu den Merkmalen zählen die Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten, eine gesteigerte Aktivität der Massen. Und der Aufbau einer proletarischen Partei, die bereit ist, die Führung zu übernehmen.

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Bauernproteste oder Revolution? Warum ich an die letzten Tage der DDR denken muss

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09.01.2024

Als ich am Montagmorgen die Nachrichten hörte, schoss mir ein Begriff durch den Kopf, den ich das letzte Mal vor mehr als 30 Jahren gehört hatte: „Revolutionäre Situation“.

Spitzenmeldung war der Aufstand der Bauern, die für diesen Tag angekündigt hatten, Autobahnen und Straßen lahmzulegen. Es folgte der Streik der Lokführergewerkschaft: keine Bahnen ab Mittwoch im ganzen Land. Die dritte Meldung war die Gründung der Sahra-Wagenknecht-Partei, einem linken Bündnis, dem – Umfragen zufolge – mehr als 30 Prozent der Deutschen ihre Stimme geben würden.

Ich trank Kaffee, beantwortete Mails, aber die Nachrichten ließen mir keine Ruhe. Ich wurde das Gefühl nicht los, das in den letzten Wochen immer wieder aufgetaucht war: Das sind nicht die üblichen Proteste und Streiks, die mit den üblichen Verhandlungen und Versprechungen enden. Das ist anders, größer, gefährlicher: ein Volkszorn, der einen Staat zum Sturz bringen könnte.

Mein Mann kam in die Küche. Ich fragte........

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