Claus Weselsky empfängt allein in seinem Büro in der Berliner Friedrichstraße. Der neue Pressesprecher hat ihn versetzt. Gestern sollte er anfangen, sagt er, verwundert, vor allem aber empört. Und für einen Moment kann man sich vorstellen, wie der Chef der kleinen Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bei Tarifverhandlungen mit Managern der Deutschen Bahn zu Hochform aufläuft.

Aufgelaufen ist, muss man besser sagen. Denn Claus Weselsky, 65 Jahre alt, von Beruf Rangierlokführer, wird im September den GDL-Chefposten nach 16 Jahren räumen. Vorher hat er noch einmal gezeigt, was er kann: monatelange Tarifverhandlungen, immer wieder neue Streiks, die Reisende erschöpften, und dann der Durchbruch, die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter. Wer länger arbeiten will, bekommt mehr Geld. Ein Riesenerfolg, ein Modell, das auch in anderen Branchen Zukunft haben könnte.

Im Interview erzählt Weselsky, wie er in der Wendezeit, als 120.000 Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn ihre Arbeit verloren, zum Gewerkschaftskämpfer wurde, warum er nichts vom Ostbeauftragten hält und die deutsche Debattenkultur unerträglich findet.

Herr Weselsky, im September hören Sie als Chef der GDL auf. Mit einem großen Erfolg. Fühlt sich das gut an?

Es war nicht so, dass ich mir ein Denkmal setzen musste. Der Tarifabschluss war notwendig, die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich lache mich fast kaputt.

Warum?

Weil jetzt alle auf den Zug aufsteigen! All die Gewerkschaften, die Verantwortung für Schichtarbeiter tragen, bekommen von ihren Leuten jetzt die Frage gestellt: Wieso ist das bei uns nicht möglich? Da kann die Antwort nur lauten: zu wenige Mitglieder, noch nicht genügend Kraft.

26.04.2024

gestern

•gestern

Kein Gewerkschaftsführer in Deutschland gilt als so hart und entschieden wie Sie.

Ja, unsere Aktionen haben aber auch immer viel Öffentlichkeit. Wegen der Drittbeteiligten.

Die Drittbeteiligten? Sind wir das, die Fahrgäste?

Die Güterverkehrskunden oder die Personenverkehrskunden. Also ja, die Fahrgäste.

Wie haben Sie in der Zeit der Verhandlungen geschlafen?

Wenig.

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Weil die Drittbeteiligten Sie so beschimpft haben?

Das haben sie ja nicht nur. Ich bin während der Streiks mit Zügen gefahren, wenn sie denn fuhren, und in Berlin auch mit Bus und Bahn. Ja, Leute haben sich geärgert und Frust geschoben, haben mich aber auch angesprochen: Machen Sie’s schnell! Oder: Toll, dass Sie das gemacht haben. Bleiben Sie weiter so stabil. Sie reagieren anders, wenn man ihnen persönlich begegnet, wenn man ihnen sagt, was bei der Bahn für Lohndumping betrieben wird.

Was war der härteste Moment in diesem letzten Arbeitskampf?

Als ich den Mediatoren eine Absage erteilt habe. Ich saß mit dem früheren Innenminister Thomas de Maizière, dem Ministerpräsidenten Daniel Günther aus Schleswig-Holstein und Bahnvorstand Martin Seiler zusammen und musste sagen: Für die GDL kommt Ihr Vorschlag nicht infrage.

Was geht in solchen Momenten in Ihnen vor?

Ich habe das Glück, dass ich zwar innerlich aufgeregt bin, man mir das aber nicht ansieht.

Wie haben die anderen drei am Tisch auf Ihre Absage reagiert?

Herr Seiler war betroffen, weil er gewusst hat, dass es jetzt noch weiter geht. Aber das verläuft alles in ruhiger Tonlage, höflich. Man kann sich auch mit Worten bekämpfen. Und die treffen dann auch.

Wo haben Sie gelernt, sich in solchen Situationen zu behaupten?

Ich habe 2001/02 eine Ausbildung im Gewerkschaftsmanagement beim DBB gemacht. Fünf Module, da war auch Medientraining dabei. Bei meinem ersten Statement sagte der Mann, der hinter der Kamera stand, zu mir: Schlaftablette! Wenn du so redest, schlafen die Leute vorm Fernseher ein.

Sie waren zu DDR-Zeiten selbst Lokführer. War das Ihr Traumberuf?

Nein, ich wusste nicht, was ich werden sollte und hab zu meiner Mutter gesagt habe: Ich mache Kfz-Schlosser. Meine Mutter sagte: Kfz-Schlosser werden die Kinder von Handwerkern, Selbstständigen oder Leuten mit Westgeld. Wir sind weder selbstständig, noch haben wir Westgeld.

So schwer war es?

War Mangelware, klar. Ich hab mich dann für eine Lehrstelle als Dieselmotorenschlosser bei der Reichsbahn beworben, war zu spät dran, bin über die Warteliste reingerutscht, hab mich im zweiten Jahr zum Lokführer spezialisiert. Die besten aus der Klasse wurden dafür ausgewählt, dazu zählte ich.

Lokführer galt als guter Beruf?

Ja, wegen des Einkommens, und so ein Alleinarbeitsplatz ist auch Gold wert.

Sie arbeiten gern allein?

Ja, allein unterwegs zu sein, mit mehreren tausend PS, das ist ein erhebendes Gefühl. Es ist ein wunderschöner Beruf.

Welche Strecken sind Sie gefahren?

Von Dresden-Friedrichstadt ging es los, später von Pirna, durchs Elbsandsteingebirge, die Felsenlandschaft, traumhaft. Meine Lieblingsstrecke bis heute.

Was macht man die ganze Zeit in der Lok? Radio hören?

Ist verboten. Man muss hochkonzentriert sein, innerhalb von einem Bruchteil von Sekunden eine Entscheidung treffen, wenn man zum Beispiel plötzlich ein Kind auf den Gleisen sieht.

Wie oft haben Sie sowas erlebt?

Nur einmal. Da habe ich ein Auto auf die Hörner genommen, wie wir das nennen. Es hatte am Bahnübergang am Stoppschild angehalten, ist wieder losgefahren, ich habe zweimal gepfiffen, bin nicht mehr von der Bremse gegangen, aber der Bremsweg mit dem Güterzug ist sehr lang.

Wie ist es ausgegangen?

Das Auto, ein Skoda, ist Schrott gewesen, der Fahrer hatte nicht mal einen Kratzer. Ich habe zu ihm gesagt: Schreiben Sie sich das Datum auf. Das ist Ihr zweiter Geburtstag.

Sie sind 1990 in die GDL eingetreten, kurz nach dem Mauerfall. Wie kam es dazu?

Die Lokführer in der DDR haben am 24. Januar 1990 eine Gewerkschaft gegründet, die GDL Ost. Das war mutig, denn da war noch nicht abzusehen, wohin die Reise geht, wie die Wende verlaufen wird. Nach einem halben Jahr waren 90 Prozent aller Lokführer aus der DDR in der Gewerkschaft. Die hatten gar nicht genug Ausweise, da haste erst mal einen Zettel in die Hand gedrückt bekommen.

Und wohin ging dann die Reise in der Wendezeit?

120.000 Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn wurden entlassen oder versetzt. Wir haben die Leute mit 55 in den Vorruhestand gehen lassen und sehr viele in den Westen geschickt.

Warum sind die Eisenbahner nicht im Osten geblieben, die Bahn gab es doch weiter?

Weil mit der Industrie im Osten auch der Güterverkehr zusammengebrochen ist. In der DDR war der Güterverkehr unglaublich stark, es gab sogar Gesetze dafür. Zum Beispiel durften Güter nur 50 Kilometer mit dem Lkw transportiert werden, ab Kilometer 51 ging es mit der Eisenbahn weiter.

Klingt nachhaltig.

Die Regelung ist etwas sehr starr gewesen, aber vom Ansatz her richtig.

Sind Sie damals schon so kämpferisch gewesen?

Im September 1990 bin ich zum Personalrat gewählt worden. Da begann das Gewerkschaftsleben und der Einsatz für andere. Ich habe Leuten gegenübergesessen, die mit mir zusammen gelernt hatten, die ihre Arbeit, ihre Existenzgrundlage verloren hatten oder von jetzt auf gleich aus der Heimat weggehen mussten. Ich habe in dieser Zeit aufgehört, Züge zu fahren, weil ich gemerkt hatte, dass ich die Schicksale im Hinterkopf habe. All die Schicksale. Als ich einmal an einem Signal vorbeigefahren bin, habe ich gesagt: So, jetzt hörst du auf. Auch deshalb bin ich Gewerkschafter geworden.

Ist es richtig zu sagen, ostdeutsche Eisenbahner wie Sie haben damals die GDL wiederbelebt, die in der Bundesrepublik überhaupt keine Rolle mehr spielte?

Die GDL ist eine der ältesten Gewerkschaften, wurde von einem deutschen Lokomotivführer 1867 gegründet, um Witwen und Waisen eine Art Rente auszuzahlen. Während der Nazizeit wurde die GDL – wie alle Gewerkschaften – verboten, 1949 gab es sie wieder in den alten Bundesländern. Da Lokführer aber zu hundert Prozent Beamte waren, hatte die GDL keine Aufgaben mehr, alles wurde durch Lobbyarbeit in den Ministerien geregelt. 1991 wurde in Kassel die ostdeutsche GDL mit der westdeutschen vereinigt, verbeamtet wurde nicht mehr, weil die Entscheidung fiel, die Deutsche Bahn zu privatisieren. Erst so ist aus der GDL eine kämpferische und streitbare Gewerkschaft geworden.

Ist die GDL noch heute im Osten stärker?

Der Schwerpunkt ist in den östlichen Bundesländern, weil es hier bis heute nicht mehr als 25 Beamte gibt. Und in den alten Bundesländern: 4000. Beim Streik merkt man das. Ein GDL-Mitglied, das verbeamtet ist, kann nicht streiken. Die Westdeutschen übernehmen deshalb den Notfahrplan, fahren rüber in den Osten und wieder zurück.

Wie unterschied sich die Deutsche Bahn der Bundesrepublik von der Deutschen Reichsbahn der DDR?

Die Bahnen waren sich ziemlich ähnlich, beide halbmilitärisch organisiert. Es galt: Erst wird ausgeführt, diskutiert kann hinterher werden. Tja, und dann haben wir 1994 die Privatisierung erleben dürfen. Die Zusammenlegung der beiden Bahnen und die Verschmelzung in die Deutsche Bahn Aktiengesellschaft.

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Welche Fehler wurden dabei gemacht?

Der größte Fehler ist die Privatisierung als solche gewesen. Das, was wir heute erleben, hat nichts mehr mit Eisenbahn zu tun. Das ist ein Desaster vor dem Herrn, verursacht von dem gleichen Management, das heute noch da ist. Das sich die Taschen füllt. Für Schlechtleistung. Voriges Jahr im Frühjahr haben sie sich 14 Prozent Grundgehaltserhöhung geschenkt, die Boni abgefasst und in der Tarifrunde erklärt: Wir müssen sparen, wir müssen sanieren, die Lokführer müssen einen Beitrag leisten, auf ihre Privilegien verzichten.

Welche Privilegien?

Das fragt keiner. Ein halbwegs geregeltes Leben, eine Dienstplanung, die nicht bloß drei Tage im Voraus umfasst, sondern einen Monat, ein ganzes Jahr. Wir haben seit zehn Jahren Personalmangel. 1975, als ich zur Eisenbahn gegangen bin, hat man gesagt, man ist eben im Schichtsystem. Ende der Durchsage. In der heutigen Zeit ist es nicht mehr attraktiv. Deshalb haben wir die Wochenarbeitszeit abgesenkt und die Schichtrhythmen verbessert. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten bilden wir eine Fünftagewoche ab, mit 48 Stunden Ruhe zwischendurch.

Was würden Sie als Erstes bei der Bahn ändern, wenn Sie im Management wären?

Die Infrastruktur klar abtrennen. Das Netz, Station und Service, DB Energie, DB Vertrieb und die Werkstätten. Der ganze Konzern ist aufgebläht, wir haben 700 GmbHs weltweit.

Sie müssten nichts Neues erfinden, sondern auf die alten Mittel und Methoden zurückgreifen. Wir waren pünktlich. Man konnte die Uhr nach der Eisenbahn stellen.

Mit Ihrer Furchtlosigkeit, Missstände anzusprechen, sich zu wehren, sind Sie für viele in Deutschland zu einem Symbol geworden. Warum gibt es so wenig Leute wie Sie?

Ich finde, wir haben an der Stelle eine unglaublich negative Entwicklung genommen. Wir haben keine Debattenkultur mehr, es wird nur noch abgestempelt, in Schubladen geschoben oder in die rechte Ecke, oder man wird zum Querdenker erklärt. Einen Streit in der Sache erlebe ich fast nirgends. Die Politik wird in Talksendungen gemacht.

Die Sie sich aber noch ansehen?

Ich bin eigentlich davon weg, aber manchmal tue ich sie mir noch an. Wenn ich Herrn Lauterbach sehe, und der trifft wieder so eine einsame Entscheidung, da wird mir schlecht, einfach nur schlecht. Die Politiker in der Regierung sind zu dämlich, sich zusammenzusetzen und zu streiten, bis sie Einigkeit haben, breiten alles in der Öffentlichkeit aus, und dann wundern sie sich, wenn die Leute sagen: Das ist doch hier ein Affenstall. Das ist doch kein Land mehr, das vernünftig regiert wird. Es ist zum Heulen. Politik wird über oder von den Medien gemacht. Da stimmt was im Gesamtgefüge nicht. Entschuldigung. Sie sind ja Medienvertreter und müssen das, was ich sage, aushalten jetzt.

Das halten wir aus.

Die Talkshows! Die Moderatoren! Schwingen sich zum Richter auf und nageln Politiker auf Meinungen fest. Ich verstehe nicht, warum die sich da überhaupt noch reinsetzen.

Sie selbst sind aber auch in Talkshows gegangen?

Ja. Für die gute Sache muss ich alles geben.

Wie wünschen Sie sich denn die Streitkultur?

Die Debatten sollten intern stattfinden. So mache ich es, streite mich mit meinen Leuten um den besten Weg. Da geht es zur Sache, wird hart diskutiert und trotzdem kollegial. Wir schreien uns auch an. Wer die besseren Argumente hat, gewinnt. Es ist nicht so, dass alles nach meinem Kopf geht. In den Zeitungen steht: Weselsky führt die GDL wie Assad. Ich sage: Lasst sie glauben. Denken die, dass ich einem Lokführer befehlen kann, in den Streik zu gehen?

Sehen Sie sich als Arbeiterführer? Ist das, was Sie machen, Klassenkampf?

Davor habe ich mich immer gefürchtet, dass man mich zum Klassenkämpfer abstempelt: der Ossi, der rote Politik macht. Das, was ich mache, ist Arbeitskampf, kein Klassenkampf. Ich bin in der CDU, weil ich in meinem Inneren erzkonservativ bin. In der GDL wird jeder reglementiert, wenn er beginnt, Parteipolitik zu machen, egal in welcher Partei er ist. Das Grundgesetz sagt in Artikel 9, Absatz 3, warten Sie …

(Weselsky steht auf, geht zum Schreibtisch, nimmt ein kleines Buch in den Farben der deutschen Fahne in die Hand, schlägt es an der Stelle auf, an der ein Eselsohr ist, liest vor ...)

„Das Recht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“, steht hier. Das ist die Grundlage für Gewerkschaften.

Als Sie 2008 Chef der GDL wurden, waren Sie einer der wenigen Ostdeutschen in Führungspositionen. War Ihnen das bewusst?

Habe ich mir nie Gedanken drüber gemacht. In der GDL zählt, dass jemand in Führung kommt, der sich auskennt im Arbeitskampf.

Sie sind auch einer der wenigen Ostdeutschen in einer Führungsposition, der sich das Sächseln nicht abtrainiert hat. Hat man das damals bei Ihrem Gewerkschaftscoaching versucht?

Nein. Das lasse ich nicht zu, das finde ich total Banane. Man muss mich nehmen, wie ich bin. Ich mache mich doch nicht krumm, um irgendwo geschmeidiger zu werden und irgendwas erreiche. Ich bin zu DDR-Zeiten auch nie in die Partei eingetreten oder drei Jahre zur Armee gegangen, damit es mit meiner Lokführerlaufbahn schneller geht.

Wurden Sie mal als Sachse diskriminiert?

Regelmäßig. Schauen Sie in die Zeitungsartikel. Es gibt Menschen, die sagen: Ich kann Ihr Sächsisch nicht mehr hören. Geht mir alles am Steiß vorbei. Hören Sie sich mal einen Bayern an! Da wird Ihnen schwindlig, den verstehen Sie gar nicht mehr, das ist die Hölle.

Dirk Oschmann hat seinen Kindern das Sächseln verboten. Verstehen Sie das?

Halte ich für falsch. Kinder sollten nicht schreiben, wie sie reden, aber einen Dialekt würde ich meiner Enkelin niemals abgewöhnen. Oschmann ist mir an anderer Stelle aufgefallen.

Wo denn?

Mich hat jemand dazu bewegen wollen, mit ihm in eine Streitdiskussion zu gehen. Das habe ich abgelehnt.

Warum?

Weil ich mit dem Mann nicht streite. Der hat recht. Ich habe sein Buch gelesen, hatte eigentlich keine Zeit. Früher habe ich unglaublich viel gelesen: utopische Literatur, Jules Verne, aber auch Elfensagen, Nibelungen. Heute komme ich nicht mehr dazu.

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Noch mal zu Oschmann …

So ein verkappter SPDler wollte mich in Stellung bringen gegen ihn. Ich hab gesagt: Der Mann sagt, was Fakt ist! Willst du Geschichtsklitterung betreiben, und ich bin dann das einzige Vorzeigebeispiel?

Ist der SPDler, über den Sie sprechen, der Ostbeauftragte?

Der Ostbeauftragte? Kenn ich nicht! Weiß ich nicht, was der macht. Durch die neuen Bundesländer gehen und Seelen pflegen? An der Stelle ändern wir die Geschichte nicht mehr. Ich kenne Tausende, die ihre Arbeit verloren haben. Und nur weil es einen Gewerkschaftsvorsitzenden aus dem Osten gibt, heißt das doch nicht, dass der Osten erfolgreich integriert ist. Oschmann spitzt zu, aber er beschreibt Dinge, die ich selbst erlebt habe. Wie sich Westdeutsche, die in den Osten gekommen sind, mit Buschzulage in die höchsten Stellen gebeamt haben, obwohl sie oft nichts getaugt haben. Flachzangen!

Auch bei der Bahn?

Das ist eine Geschichte für sich. Nicht nur bei der Bahn, auch in der Politik und in den Medien. Bei einer MDR-Sendung habe ich mal mit dem Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen diskutiert, der sagte, die Ossis sind undankbar. Ich frage, woher sind Sie denn? Aus den alten Bundesländern. Klar. Da war was los. Schon in der Vorbesprechung. In der Nachbesprechung bin ich gegangen, hab gesagt, ich wüsste nicht, warum ich mit Ihnen ein Glas Wein trinken soll!

Wurde das Interview gesendet?

Ja, war ja live. Ich mach sowieso alles am liebsten live. Kann man nicht soviel dran herumschnippeln hinterher.

Was machen Sie, wenn Sie jetzt weniger arbeiten? Ihre Kindermodelleisenbahn rausholen?

Ich bin kein Modelleisenbahner. Ich stehe mehr auf richtige Eisenbahnen. Ich bin weiter in der Gewerkschaft tätig als stellvertretender Bundesvorsitzender des DBB, unseres Dachverbandes. Und ich will Dinge erledigen, die liegengeblieben sind, auf meinem Grundstück zum Beispiel.

Den künftigen Vorsitzenden der GDL, arbeiten Sie den schon ein?

Das ist mein Stellvertreter Mario Reiß, der läuft seit Juni 2022 im Parallelbetrieb. Im Moment verhandelt der in Frankfurt den Tarifvertrag für die Südwestdeutsche Eisenbahngesellschaft. Er ist charakterstark, Sachse, kommt aus Süptitz bei Torgau. Und hat, ich sage es vornehm, einen Hintern in der Hose. Einer, der nicht umfällt beim ersten Hauch, und eine gewisse Haltung hat er auch.

Klingt fast wie Sie.

Ich hab ihn aber nicht ausgesucht.

Wer dann?

Eine Findungskommission. Fünf Kollegen standen zur Auswahl, drei ältere, einer um die 40 und ein ganz junger. In der Dezembersitzung 2021 wurde mir ein Umschlag überreicht. Ich habe reingeguckt, das Bild rausgeholt, und es war genau der, den ich ins Auge gefasst hatte. Ich bin sehr zufrieden.

QOSHE - Claus Weselsky: „Westdeutsche haben sich mit Buschzulage in höchste Stellen gebeamt“ - Anja Reich
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Claus Weselsky: „Westdeutsche haben sich mit Buschzulage in höchste Stellen gebeamt“

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28.04.2024

Claus Weselsky empfängt allein in seinem Büro in der Berliner Friedrichstraße. Der neue Pressesprecher hat ihn versetzt. Gestern sollte er anfangen, sagt er, verwundert, vor allem aber empört. Und für einen Moment kann man sich vorstellen, wie der Chef der kleinen Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bei Tarifverhandlungen mit Managern der Deutschen Bahn zu Hochform aufläuft.

Aufgelaufen ist, muss man besser sagen. Denn Claus Weselsky, 65 Jahre alt, von Beruf Rangierlokführer, wird im September den GDL-Chefposten nach 16 Jahren räumen. Vorher hat er noch einmal gezeigt, was er kann: monatelange Tarifverhandlungen, immer wieder neue Streiks, die Reisende erschöpften, und dann der Durchbruch, die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter. Wer länger arbeiten will, bekommt mehr Geld. Ein Riesenerfolg, ein Modell, das auch in anderen Branchen Zukunft haben könnte.

Im Interview erzählt Weselsky, wie er in der Wendezeit, als 120.000 Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn ihre Arbeit verloren, zum Gewerkschaftskämpfer wurde, warum er nichts vom Ostbeauftragten hält und die deutsche Debattenkultur unerträglich findet.

Herr Weselsky, im September hören Sie als Chef der GDL auf. Mit einem großen Erfolg. Fühlt sich das gut an?

Es war nicht so, dass ich mir ein Denkmal setzen musste. Der Tarifabschluss war notwendig, die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich lache mich fast kaputt.

Warum?

Weil jetzt alle auf den Zug aufsteigen! All die Gewerkschaften, die Verantwortung für Schichtarbeiter tragen, bekommen von ihren Leuten jetzt die Frage gestellt: Wieso ist das bei uns nicht möglich? Da kann die Antwort nur lauten: zu wenige Mitglieder, noch nicht genügend Kraft.

26.04.2024

gestern

•gestern

Kein Gewerkschaftsführer in Deutschland gilt als so hart und entschieden wie Sie.

Ja, unsere Aktionen haben aber auch immer viel Öffentlichkeit. Wegen der Drittbeteiligten.

Die Drittbeteiligten? Sind wir das, die Fahrgäste?

Die Güterverkehrskunden oder die Personenverkehrskunden. Also ja, die Fahrgäste.

Wie haben Sie in der Zeit der Verhandlungen geschlafen?

Wenig.

Ex-Staatssekretär: SPD und Grüne haben Berlin „verlorene Jahrzehnte“ beschert

17.04.2024

Weil die Drittbeteiligten Sie so beschimpft haben?

Das haben sie ja nicht nur. Ich bin während der Streiks mit Zügen gefahren, wenn sie denn fuhren, und in Berlin auch mit Bus und Bahn. Ja, Leute haben sich geärgert und Frust geschoben, haben mich aber auch angesprochen: Machen Sie’s schnell! Oder: Toll, dass Sie das gemacht haben. Bleiben Sie weiter so stabil. Sie reagieren anders, wenn man ihnen persönlich begegnet, wenn man ihnen sagt, was bei der Bahn für Lohndumping betrieben wird.

Was war der härteste Moment in diesem letzten Arbeitskampf?

Als ich den Mediatoren eine Absage erteilt habe. Ich saß mit dem früheren Innenminister Thomas de Maizière, dem Ministerpräsidenten Daniel Günther aus Schleswig-Holstein und Bahnvorstand Martin Seiler zusammen und musste sagen: Für die GDL kommt Ihr Vorschlag nicht infrage.

Was geht in solchen Momenten in Ihnen vor?

Ich habe das Glück, dass ich zwar innerlich aufgeregt bin, man mir das aber nicht ansieht.

Wie haben die anderen drei am Tisch auf Ihre Absage reagiert?

Herr Seiler war betroffen, weil er gewusst hat, dass es jetzt noch weiter geht. Aber das verläuft alles in ruhiger Tonlage, höflich. Man kann sich auch mit Worten bekämpfen. Und die treffen dann auch.

Wo haben Sie gelernt, sich in solchen Situationen zu behaupten?

Ich habe 2001/02 eine Ausbildung im Gewerkschaftsmanagement beim DBB gemacht. Fünf Module, da war auch Medientraining dabei. Bei meinem ersten Statement sagte der Mann, der hinter der Kamera stand, zu mir: Schlaftablette! Wenn du so redest, schlafen die Leute vorm Fernseher ein.

Sie waren zu DDR-Zeiten selbst Lokführer. War das Ihr Traumberuf?

Nein, ich wusste nicht, was ich werden sollte und hab zu meiner Mutter gesagt habe: Ich mache Kfz-Schlosser. Meine Mutter sagte: Kfz-Schlosser werden die Kinder von Handwerkern, Selbstständigen oder Leuten mit Westgeld. Wir sind weder selbstständig, noch haben wir Westgeld.

So schwer war es?

War Mangelware, klar. Ich hab mich dann für eine Lehrstelle als Dieselmotorenschlosser bei der Reichsbahn beworben, war zu spät dran, bin über die Warteliste reingerutscht, hab mich im zweiten Jahr zum Lokführer spezialisiert. Die besten aus der Klasse wurden dafür ausgewählt, dazu zählte........

© Berliner Zeitung


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