Den meisten Gewinnerinnen der Castingshow „Germany’s Next Topmodel“ droht das gleiche Schicksal: Ihre Namen sind schneller vergessen als Heidi Klum „Ich habe heute leider kein Foto für dich“ sagen kann. Längst ist die Model-Sause zum werberelevanten Selbstläufer geworden: Entertainment schlägt Ernsthaftigkeit, wer heraussticht, der schafft es vielleicht noch in ein, zwei weitere Reality-TV-Formate und sammelt ansonsten ein paar neue Follower für die Influencer-Karriere.
So weit, so vorhersehbar. Es gab aber auch Zeiten, in denen die Kandidatinnen durchaus noch den Traum und den Anspruch hatten, eine echte Model-Karriere zu starten. Die Laufstege in New York, Paris, Mailand oder doch wenigstens in Berlin zu erobern.
Als Stefanie Giesinger, eine 1,77 Meter große Schülerin aus Kaiserslautern, 2014 im Alter von 17 Jahren an der neunten Staffel von „Germany’s Next Topmodel“ teilnimmt, steckt das Format in einer Art Zwischenphase. Längst haben Kandidatinnen wie Gina-Lisa Lohfink und Sarah Knappik für einen ordentlichen Trash-Anteil gesorgt, für viele Zuschauer steht zu diesem Zeitpunkt bereits fest, dass die erste GNTM-Siegerin Lena Gercke sowieso die einzige bleiben wird, die als Model Erfolg hat.
Giesinger, die in der ersten Folge noch als Wackelkandidatin gilt, wird diese Erzählung Lügen strafen. In der Show überzeugt sie durch ihre Ausstrahlung, durch Lebensfreude und Optimismus. „Steffi“ wird sie von allen nur genannt, nach ihrem Sieg spricht sie vom „allerschönsten Moment“ in ihrem Leben. Dann wird sie von der Bühne geschickt: Es ist spät und sie ist ja noch nicht volljährig.
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Schon während der Show ergattert Giesinger einen Opel-Werbespot, läuft zahlreiche Modenschauen. Juror Wolfgang Joop attestiert ihr, sie habe zwar einige seiner Entwürfe getragen, „aber das schönste Kleid ist deine Art“. Die Kölner Lanxess-Arena tobt nach ihrem Sieg, die 15.000 Final-Zuschauer lassen in ihren Beifallsbekundungen zu keinem Zeitpunkt Zweifel daran, dass Giesinger gewinnen soll. Und so kommt es dann auch.
Seitdem sind zehn Jahre vergangen, und als nun vor ein paar Tagen die Meldung aufploppte, dass die mittlerweile 27 Jahre alte Stefanie Giesinger es in die begehrte Forbes-Liste „30 Under 30“ geschafft hat, da hat sich vielleicht der eine oder andere doch verwundert die Augen gerieben. Jedes Jahr küren das amerikanische Wirtschaftsmagazin und einige seiner regionalen Ableger 30 aufstrebende junge Menschen unter 30 Jahren für ihren Erfolg – und ihren Einfluss.
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Für Europa gibt es die Liste seit 2016 – und auf ihr wird Stefanie Giesinger in der Kategorie Art & Culture als jemand aufgeführt, der die Zukunft von Mode, Food und kreativen Künsten mitgestaltet. Die Wahlberlinerin hat bei Instagram mehr als fünf Millionen Follower und ist damit nicht nur einsame Spitze unter den einstigen Topmodel-Teilnehmerinnen. Sie gehört deutschlandweit zu den reichweitenstärksten Social-Media-Influencerinnen überhaupt.
Forbes schreibt über Giesinger: „Das junge Model lief für Dolce & Gabbana zur Mailänder Modewoche und zierte das Cover der Cosmopolitan Deutschland. Seitdem ist sie Botschafterin und Investorin der Damenhygienemarke The Female Company, wo sie sich für die Sensibilisierung von Menstruationshygiene einsetzt. Im Jahr 2024 startete sie ihren Podcast ‚G Spot‘, der als Plattform für sinnvolle Diskussionen über toxische Männlichkeit, weibliches Unternehmertum, Schönheitsstandards und Sexualität dient.“
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Man merkt an diesem Text schon, wie breit sich Giesinger seit ihrem GNTM-Sieg aufgestellt hat. Die richtige Mischung aus High Fashion, leichter Unterhaltung und seriösen Themen, gepaart mit ihrem offenen Umgang mit physischen und psychischen Problemen sorgen dafür, dass es am Ende glaubwürdig bleibt.
Bei Instagram sieht man, wie das geht: Mal sieht man die Pfälzerin in Kalifornien beim Sonnenbaden, wo sie die schicke Szenerie mit Sprüchen wie „little steff in big L.A.“ geschickt bricht. Dann wieder schreibt sie längere Texte über ihre Krankheit; Giesinger leidet seit ihrer Geburt an einer seltenen Darmfehlbildung namens Malrotation, schreibt, sie habe früher viel Zeit im Krankenhaus verbracht. „Meinen Symptomen wurden kein Glauben geschenkt. Es ist erschreckend, dass ich fast sterben musste, bis meine Krankheit diagnostiziert wurde. Die Folgen dieser Erfahrung spüre ich bis heute.“
In ihrem neuen Podcast thematisiert Giesinger auch die Ungleichbehandlung von Frauen, fragt sich, ob es damals anders gelaufen wäre, wenn sie ein Junge gewesen wäre. Mädchen werde weniger geglaubt, so Giesinger, und: „Ärzt:innen wurden primär am männlichen Körper ausgebildet, genauso wie viele Studien auf Männern basieren, denn Männlichkeit wurde als Norm definiert. Im ‚G Spot‘-Podcast spreche ich drüber, wie viel Raum uns Frauen in unserer Gesellschaft geboten wird.“
Giesinger diskutiert Themen wie Feminismus, mentale Gesundheit, Sex, Business, Mode und Liebe. Dafür holt sie sich bekannte Gesprächspartnerinnen wie Sophie Passmann, Katja Krasavice oder Aminata Belli an die Seite. Es geht um Selbstliebe, um den Zyklus, um die Unterschiede zwischen Pornos und Onlyfans, um Frauenquoten, aber auch um Tipps, wie es gelingt, den Schönheitsdruck abzulegen.
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Dass Giesinger auch weiterhin mit ihrem Aussehen Geld verdient, scheint dazu nicht zwingend im Widerspruch zu stehen. Die 27-Jährige ist gut gebucht, auf ihrer Agenturseite sind Editorial- und Covershootings verzeichnet, Werbejobs für Nike, Louis Vuitton, Armani-Parfum. Giesinger sitzt in der Front Row bei Gucci, modelt für Desigual, Riani und für Wolfgang Joops Label Wunderkind in Paris. Das Highlight setzt sie 2017 mit ihrem Walk für das italienische Luxuslabel Dolce & Gabbana bei der Mailänder Fashion Week. Doch Giesingers Fokus lag nie nur auf Jobs wie diesen.
Die Tochter russlanddeutscher Eltern bekam wie damals üblich nach ihrem GNTM-Sieg zunächst einen zweijährigen Vertrag bei Günther Klums Modelagentur ONEeins fab. Anders als viele andere Kandidatinnen versuchte sie nicht, vorzeitig auszusteigen, verlängerte den Vertrag aber auch nicht. Sie drehte mit Matthias Schweighöfer, wirkte als Markenbotschafterin von L’Oréal, gründete ihr eigenes Modelabel.
Heute ist ihre Präsenz in den sozialen Medien Giesingers größtes Kapital. Ihre Anhänger feiern sie nach wie vor für ihre authentische, offene Art. Zu ihrem jüngsten Erfolg, der Aufnahme in die Forbes-Liste, gratuliert ihr auch Heidi Klum öffentlich. Dass Giesinger nie mit ihrer Entdeckerin gebrochen hat, wird sicher kein Karrierenachteil gewesen sein. Inzwischen tritt die Gewinnerin von einst bei „Germany’s Next Topmodel“ immer mal wieder als Gastjurorin auf. Von der Show emanzipiert hat sie sich dennoch längst.
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