Ein Mann liegt mitten in Gaza auf der Straße. Das Gesicht zum Boden, tot. Er trägt ein T-Shirt, ist so alltäglich gekleidet wie der Berliner Abed Hassan auch. Wer hat den Mann getötet? Welchen falschen Schritt hatte er getan? Der Tote verrät es nicht.

Der 27-jährige Abed Hassan aus Moabit und seine Mutter wissen nun, dass unterwegs zur Grenze zwischen Gaza und Ägypten Menschen erschossen werden. Nur nicht, wie sie den Scharfschützen entgehen können. Sie eilen an der Leiche vorbei und gehen weiter wie geplant. Was bleibt ihnen anderes übrig. Vor ihnen liegt noch ein Checkpoint der israelischen Armee. Der Berliner hält auf der Flucht seine Ledertasche ganz fest. Sie enthält die deutschen Pässe, die Smartphones, Wäsche, Hygieneartikel und eine Tafel mit Waffelgebäck.

Hassan kramt einige Wochen später die zerknautschte Packung mit dem ungeöffneten Proviant aus der Tasche. Er hält sie wie ein Andenken in der Hand. Der Berliner hat die Ledertasche einer italienischen Marke mit an seinen Arbeitsplatz in Charlottenburg genommen. Er verwaltete die Uhrenwerkstatt, die ein Freund von ihm in einer Altbauwohnung gegründet hat. Die Wände hier sind blau angestrichen. Lüster hängen von hohen Decken.

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Ein Kollege sitzt bei absoluter Stille im Nachbarraum und hantiert mit Werkzeug. Besucher müssen vor dem Betreten der Werkstatt die Schuhe ausziehen, damit die Dielen nicht knarzen und stören. Wie weit entfernt kann sich ein Ort anfühlen von einem Kriegsgebiet, in dem es pausenlos knallt? Hassan wirkt nach 34 Tagen in Gaza in der Werkstatt für Luxusuhren, als wäre er nie weg gewesen. Das grenzt an ein Wunder.

Der Berliner wurde in den vergangenen Wochen zu einem Medienphänomen. Internationale Nachrichtenagenturen und Fernsehsender konnten nach Beginn des Krieges am 7. Oktober nur auf eine Handvoll palästinensischer Mitarbeiter zurückgreifen, um über die Lage in Gaza zu berichten. Über 40 Journalisten aus Gaza kamen bei ihrer Arbeit bisher ums Leben. Hassan griff zu seinem Smartphone, machte Fotos und verfasste Videos über das, was um ihn herum geschah. Er veröffentlichte sie auf Onlinediensten wie Instagram. Der 27-Jährige beschränkte sich bei seinen Berichten auf das, was er selbst erlebt oder mit eigenen Augen gesehen hat. Politische Statements finden sich in seinen Videos nicht.

Mittlerweile folgen circa 80.000 Follower Hassan auf Instagram. Der deutsch-französische Kultursender Arte hat eine Reportage über den Berliner nach seiner Rückkehr nach Deutschland gedreht. Arte spricht von Millionen, die im Netz einen von Hassan geposteten Inhalt in den vergangenen Wochen angeklickt haben. Hassan hat für viele Nutzer in Deutschland offenbar eine Lücke gefüllt. Westliche Medien waren aufgrund der Isolation des Gazastreifens und der Lebensgefahr für Reporter mit eigenen Berichterstattern nicht vor Ort. Hassan konnte dagegen einen Einblick geben in den Alltag in Gaza im Krieg. Er gab den Menschen ein Gesicht, die in den Nachrichten hinter Bildern von Rauchwolken und aufblitzenden Detonationen unsichtbar werden.

Als Abed Hassan und seine Mutter Anfang Oktober nach Gaza reisten, freuten sie sich auf eine Hochzeit in der Familie. Die Hassans hatten sich eine Ferienwohnung gekauft, um bei künftigen Familienbesuchen eine eigene Unterkunft zu haben. Hassan werkelte in den ersten Oktobertagen in der neuen Wohnung herum. „Einige Fenster waren noch vom letzten Krieg kaputt“, erinnert er sich. Der war 2021.

Sein Cousin rief am 7. Oktober bei ihm morgens an. „Er meinte, dass es Krieg geben würde. Ich sollte unbedingt zu ihm kommen. Ich wollte aber zunächst nicht“, sagt Hassan. Zu diesem Zeitpunkt zogen Kämpfer der Terrororganisation bereits marodierend und mordend durch israelische Ortschaften unweit des Gazastreifens. Sie massakrierten Hunderte Besucher eines Techno-Festivals. Salven von Raketen flogen aus Gaza in Richtung Israel.

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Hassan schildert, dass ihm am Morgen des 7. Oktober das Ausmaß der Ereignisse nicht bewusst war. Er habe weiter klar Schiff in der neuen Wohnung machen wollen. Die Warnung am Telefon sei ihm übertrieben vorgekommen. Dann stand der Cousin vor der Tür, und Hassan gab schließlich nach. Eine Woche später fuhr Hassan auf der Suche nach einem Gaskanister noch einmal in die Wohnung. Das Viertel liegt im Norden des Gazastreifens. Die israelische Armee konzentrierte ihre Luftschläge zunächst auf den Norden Gazas und rückte schließlich ein. Der Cousin habe ihm das Leben gerettet. Alles sei „verändert“ gewesen. Hassan wiederholt dieses Wort, um die Zerstörung zu beschreiben. Als fehlten ihm die Begriffe für die Verwüstung.

Hassan und seine Mutter mussten mehrmals die Unterkunft wechseln, weil die Front näher rückte. Sie kamen lange bei Verwandten in der Altstadt von Gaza unter. „Wir waren privilegiert. Alle Händler und Depots waren in der Nähe. Was es in Gaza überhaupt noch zu kaufen gab, gab es bei uns in der Nähe“, sagt Hassan. Außerdem hatten die Verwandten einen Brunnen. Die Familie trank das ungefilterte Nass, als abgepackte Wasserflaschen nirgendwo mehr erhältlich waren. Sie kochte, was die Vorratskammer hergab oder noch aufzutreiben war. „Wir aßen alle aus einem Topf“, erinnert sich Hassan. Er beobachtete, wie Nachbarn mit Plastikbehältern ausströmten, um an einer Schule oder einem anderen öffentlichen Gebäude noch irgendeinen funktionierenden Brunnen zu finden. Aus den Wasserhähnen floss nach Kriegsbeginn bald kein Tropfen mehr.

Es begannen Nächte, in denen die Wände wackelten und die Fenster klirrten. Der Himmel leuchtete auf von Detonationen. Bald folgten auch am Tag Einschläge. Es traf ein Nachbarhaus.

Hassan erinnert sich an eine Hand, die aus den Trümmern ragte. Er fing an, mit bloßen Händen, den Schutt abzutragen. Er verletzte sich einen Fuß an einer Kante und ignorierte die blutenden Schnitte beim Graben. „Ich fand eine Frau. Ich dachte, sie wäre tot. Aber sie hat dann noch gelebt“, sagt er. Sie sei eine von zwei Verschütteten gewesen, die noch lebend aus den Trümmern geborgen werden konnten. Ein Gedanke sei ihm auf dem Schuttberg durch den Kopf gegangen. „Ich habe immer nur gedacht, das wünsche ich keiner Menschenseele. So etwas sollte niemand erleben müssen“, sagt er.

Hassan schildert, dass das Hochladen seiner Videos und Fotos zum Teil Stunden in Anspruch genommen habe. Das Internet brach nach Kriegsbeginn in Gaza weitgehend zusammen. Nur an einzelnen Stellen gab es noch schwaches Netz. Sie aufzusuchen, bedeutete unter ständigem Beschuss Lebensgefahr. Aber Hassan musste mit der deutschen Botschaft kommunizieren. Wann würde es endlich eine Chance geben für Deutsche, der Lebensgefahr in Gaza zu entkommen?

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Die Suche nach Informationen über die Ausreise muss Hassan ohne zuverlässiges Internet wie eine Schnitzeljagd erschienen sein. Er konnte mal an diesem, mal an jenem Ort bei wackeligem Empfang nachlesen, was die deutschen Behörden ihren Staatsbürgern im Kriegsgebiet rieten. Verhandlungen liefen im Hintergrund. Die ersten Deutschen konnten den Gazastreifen dann Anfang November verlassen. Schließlich befanden sich auch die Namen Hassans und seiner Mutter auf der Liste.

Als der Berliner die erste Nacht in Ägypten schlief, fiel ihm die Ruhe um ihn herum auf. Er hatte über einen Monat das Knallen von Detonationen als normale Geräuschkulisse erlebt. Das Surren der Drohnen scheint sich ihm besonders eingeprägt zu haben. Sie klängen in der Luft wie Rasenmäher, sagt er. Die Luft sei in Ägypten endlich wieder klar gewesen. In Gaza war sie gesättigt mit dem von einstürzenden Gebäuden aufgewirbelten Staub. Verwesungsgestank habe sich über die Schuttberge gelegt. Der Tod kroch in die Nase. Hassan trug nachts Masken, um in der drückenden Luft zur Ruhe zu kommen.

Das Hotel auf der ägyptischen Seite der Grenze habe am Meer gelegen, erinnert sich Hassan. Die Evakuierten hätten sich zwischen den Sonnenliegen für die Touristen fehl am Platz gefühlt. „Es war unwirklich“, sagt er.

Der 27-Jährige liegt sich wenige Tage später mit Familienangehörigen und Freunden nach der Ankunft am Berliner Flughafen in den Armen. Nach einem kurzen Glücksrausch des Wiedersehens fällt ihm auf, wie stumpf seine Gefühle geworden sind. „Ich habe gar nichts gespürt, auch keine Freude“, sagt er.

Er realisiert, dass er die 34 Tage im Krieg wie betäubt erlebt hat. Ein Teil seiner Persönlichkeit scheint ihn im Autopiloten durch die lebensgefährlichen Wochen gesteuert zu haben. „Wir durften ja nicht zusammenbrechen vor den Kindern. Selbst wenn wir erfahren haben, dass Freunde und Verwandte gestorben sind“, sagt er. Er schildert, dass die Familie Stunden mit Gesellschaftsspielen verbracht habe, während draußen die Bomben fielen. „Wir haben uns Witze erzählt“, sagt er.

Der 27-Jährige wirkt in der Uhrenwerkstatt in Charlottenburg beherrscht, als wären seine Gefühle immer noch betäubt. Er redet in ruhigem Ton vom Tod einer Cousine, von „Fleischfetzen“, die er vor dem Anfang November von einer Rakete getroffenen Al-Ahli-Krankenhaus gesehen hat. Israel und militante Palästinenser-Organisationen beschuldigen sich gegenseitig, für den Beschuss mit vermutlich Hunderten von Toten verantwortlich zu sein. Er warte seit seiner Rückkehr in den Nächten mit dem Smartphone in der Hand auf Lebenszeichen seiner Verwandten.

Meistens funktionierte nachts der Rest an Mobilfunknetz im Gazastreifen besser, erklärt Hassan. Er wisse, dass sein Cousin nun in der Nähe eines UN-Depots im Süden von Gaza mit seiner Familie auf der Straße schlafe. „Sie haben sich selbst ein Zelt gebaut aus Holz und Plastikplane. Das Wasser ist nicht mehr sauber. Sie sind davon krank geworden“, erzählt er.

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Hassan versucht dann doch, in sich hineinzuhorchen und ein Gefühl zu artikulieren. „Ich bin vor allem fassungslos“, sagt er. Dann berichtet er, wie die Kollegen in der Uhrenwerkstatt ihn nach der Rückkehr aufgefangen haben – auch ein Mitarbeiter, dessen Familie zum Teil in Israel gelebt hat. Hassan arbeitet mit jemandem zusammen, der persönliche Verbindungen nach Israel hat. Wie funktioniert das? Er sei immer neugierig gewesen, sagt er. „Ich habe ihm immer Fragen gestellt, wie ist das bei euch?“

Er habe in Gaza auch an die israelischen Geiseln denken müssen. „Ich hätte mich am liebsten zu ihnen gesetzt und ihnen mein Beileid ausgesprochen. Und dann hätte ich ihnen erzählt, wie es uns geht. Dass wir genauso Menschen sind wie sie“, sagt er. Hassan sehnt sich nach einem Dialog mit Israelis. Er wünscht sich auch, dass in deutschen Talkshows weniger über Politik und mehr über das menschliche Leid auf beiden Seiten gesprochen wird. Opfer aus Gaza und aus Israel sollten ihre Geschichte erzählen können. Hassan möchte in Deutschland gehört werden, ist aber auch bereit, anderen zuzuhören.

Vielleicht wirkt seine Vorstellung von Versöhnung unrealistisch, und doch klingt sie simpel. Sich in die Augen sehen, den Schmerz miteinander teilen und – wer weiß – sich danach in die Arme nehmen. Hass ist kein Schicksal – man muss sich jeden Tag dafür entscheiden.

QOSHE - 34 Tage in der Hölle: Ein Berliner entkommt aus Gaza - Cedric Rehman
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34 Tage in der Hölle: Ein Berliner entkommt aus Gaza

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12.12.2023

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Der 27-jährige Abed Hassan aus Moabit und seine Mutter wissen nun, dass unterwegs zur Grenze zwischen Gaza und Ägypten Menschen erschossen werden. Nur nicht, wie sie den Scharfschützen entgehen können. Sie eilen an der Leiche vorbei und gehen weiter wie geplant. Was bleibt ihnen anderes übrig. Vor ihnen liegt noch ein Checkpoint der israelischen Armee. Der Berliner hält auf der Flucht seine Ledertasche ganz fest. Sie enthält die deutschen Pässe, die Smartphones, Wäsche, Hygieneartikel und eine Tafel mit Waffelgebäck.

Hassan kramt einige Wochen später die zerknautschte Packung mit dem ungeöffneten Proviant aus der Tasche. Er hält sie wie ein Andenken in der Hand. Der Berliner hat die Ledertasche einer italienischen Marke mit an seinen Arbeitsplatz in Charlottenburg genommen. Er verwaltete die Uhrenwerkstatt, die ein Freund von ihm in einer Altbauwohnung gegründet hat. Die Wände hier sind blau angestrichen. Lüster hängen von hohen Decken.

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Der Berliner wurde in den vergangenen Wochen zu einem Medienphänomen. Internationale Nachrichtenagenturen und Fernsehsender konnten nach Beginn des Krieges am 7. Oktober nur auf eine Handvoll palästinensischer Mitarbeiter zurückgreifen, um über die Lage in Gaza zu berichten. Über 40 Journalisten aus Gaza kamen bei ihrer Arbeit bisher ums Leben. Hassan griff zu seinem Smartphone, machte Fotos und verfasste Videos über das, was um ihn herum geschah. Er veröffentlichte sie auf Onlinediensten wie Instagram. Der 27-Jährige beschränkte sich bei seinen Berichten auf das, was er selbst erlebt oder mit eigenen Augen gesehen hat. Politische Statements finden sich in seinen Videos nicht.

Mittlerweile folgen circa 80.000 Follower Hassan auf Instagram. Der deutsch-französische Kultursender Arte hat eine Reportage über den Berliner nach seiner Rückkehr nach Deutschland gedreht. Arte spricht von Millionen, die im Netz einen von Hassan geposteten Inhalt in den vergangenen Wochen angeklickt haben. Hassan hat für viele Nutzer in Deutschland offenbar eine Lücke gefüllt. Westliche........

© Berliner Zeitung


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