Die Berliner Polizei verzeichnet im Durchschnitt fünf Einsätze am Tag an Berliner Schulen. Diese Zahl geht aus einer Polizeistatistik hervor. Gewalt an Schulen steigt auch bundesweit an. Eine Nachrichtenagentur fragte die Zahlen für das Jahr 2022 im Vergleich zu Jahr 2019, dem Jahr vor der Corona-Pandemie, bei Landeskriminalämtern und Bildungsministerien ab. Die Delikte haben in ganz Deutschland zugenommen. Der Anti-Gewalt-Trainer Rainer Lenz hat in seiner Jugend in Brandenburg Erfahrungen mit Jugendgewalt gemacht. Er hilft nun Kindern und Jugendlichen bei der Kontrolle ihrer Wut. Lenz warnt vor einer entgrenzten Gewalt.

Herr Lenz, laut Statistik hat die Gewalt an Schulen in Berlin und bundesweit zugenommen. Spiegeln sich die Zahlen in ihren Erfahrungen?

Ich habe den subjektiven Eindruck einer leichten Zunahme in den vergangenen beiden Jahren. Mich erreichen im Durchschnitt fünf Anfragen in der Woche aus ganz Berlin und Brandenburg. Mich beunruhigt ein Unterschied zu meinen eigenen Erfahrungen in den 90er-Jahren. Heute geht es richtig los, wenn jemand am Boden liegt. Dann wird losgetreten. Das war damals anders.

Sie erleben also eine Entgrenzung der Gewalt?

Das kann man so sagen. Auch in räumlicher Hinsicht gilt das. Die Öffentlichkeit fixiert sich auf sogenannte Brennpunkte wie Neukölln. Ich sehe Probleme überall in Berlin.

Die Wut hat also im Ausmaß und in der Ausbreitung zugenommen. Woher kommt sie?

Ich arbeite im Training mit den Auslösern für Gewalt. Oft sind das Rachegedanken, empfundene Ungerechtigkeiten und Ehrverletzungen. Die sozialen Medien und das Internet können Konflikte schaffen, etwa durch digitales Mobbing. Sie senken auch die Hemmschwelle, zuzuschlagen, durch Gewaltvideos auf beliebten Plattformen. Ein ganz wichtiger Punkt ist die häusliche Gewalt. Die hat in der Pandemie zugenommen.

Sie sehen also einen Zusammenhang zwischen der Pandemie und vermehrter Kinder- und Jugendgewalt?

Eindeutig. Corona traf viele Jugendliche in einer Entwicklungsphase, in der sie erst ihre Widerstandsfähigkeit aufbauen. Und dann war da plötzlich diese große und schwer zu begreifende Krise. Am schlimmsten hat es Kinder und Jugendliche getroffen, die in den Lockdowns ihren gewalttätigen Eltern ausgeliefert waren. Das hat bei vielen Traumata hinterlassen.

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22.03.2024

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24.03.2024

24.03.2024

Abgesehen von den gravierenden Fällen, in denen es häusliche Gewalt gab, welche Folgen hat es heute, dass Kinder und Jugendliche etwa durch Kontaktsperren in wesentlichen Bedürfnissen eingeschränkt waren?

Ich erlebe viel Frustration und höre immer wieder einen Satz: ‚Mir hört niemand zu‘. Es hat sich also etwas aufgestaut. Ich nenne es auch die psychologische Mülltonne. Wenn die nicht aufgearbeitet wird, dann quillt die einfach über.

Sie sagen, dass Gewalt an Schulen überall in Berlin auftritt. Woran liegt das?

Berlin ist eine arme Stadt, ganz einfach. Es gibt viele Eltern, die können ihren Kindern wenig sinnvolle Freizeitgestaltung wie Sport ermöglichen. Die Kinder hängen dann auf der Straße rum. Ich erlebe in migrantisch geprägten Bezirken wie Neukölln außerdem, dass sich junge Menschen abgelehnt fühlen. Sie erleben das zum Beispiel bei Bewerbungsgesprächen für Ausbildungsplätze.

Welche Folgen hat das?

Ich erinnere mich an einen Jugendlichen. Mustafa kam zu mir ins Konflikttraining und meinte zu mir, dass jemand wie er sowieso immer schuldig sei. Es ist nicht hilfreich, auf migrantisch geprägte Bezirke mit pauschalen Urteilen draufzuhauen. Wir vergessen dann leicht, dass auch Deutsche ohne Migrationshintergrund gewalttätig werden können.

Das wird in einer ernsthaften Debatte niemand bestreiten. Es handelt sich aber doch nicht nur um Märchen, wenn Polizistinnen oder Lehrerinnen in bestimmten Bezirken besondere Respektlosigkeit von männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund beklagen.

Das Problem ist ein bestimmtes Bild von Männlichkeit. Und das existiert auch in deutschen Familien ohne Migrationshintergrund häufiger, als manche annehmen.

Welche Rolle spielen dabei Väter dabei als Vorbilder?

Leider oft keine gute. Ich erlebe in einigen Fällen Väter, die gewohnt sind, mit Rumschreien und Rumschubsen ihren Willen durchzusetzen. Ich höre dann im Familiencoaching, früher habe das auch niemandem geschadet. Die Väter sind eher hilflos und wissen sich nicht anders zu helfen. Mit ihnen zu arbeiten und sie über gewaltfreie Erziehung aufzuklären, ist entscheidend.

Für den Erfolg des Anti-Gewalt-Trainings muss also die ganze Familie mit einbezogen werden?

Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist wichtig. Oft wenden sich auch die Eltern an mich. Sie sind in Sorge und suchen eine Lösung. Ich konzentriere mich dann in zehn Sitzungen sechs Monate lang auf die Wut der Kinder und Jugendlichen. Die tieferen Ursachen wie zum Beispiel ein Trauma kann aber nur ein Psychologe bearbeiten.

Beim Anti-Gewalt-Training geht es also darum, das Feuer zu löschen und nicht die Brandursache zu bekämpfen. Wie gehen Sie vor?

Wir schauen uns das gewalttätige Verhalten gemeinsam an. Was verspricht sich der Gewalttäter davon? Welche Nachteile ergeben sich für ihn? Wir betrachten die Auslöser der Gewalt und entwickeln alternative Strategien. Ich hatte zum Beispiel einem Jungen rote und grüne Karten mit in die Schule gegeben. Er sollte die roten Karten zücken, wenn er kurz vor dem Ausrasten ist. Er konnte so dem Rest der Klasse signalisieren, dass er in Ruhe gelassen werden will. Außerdem trainieren wir die Fähigkeit zu Empathie.

Sie berichten, dass heute zugetreten wird, wenn das Opfer schon auf dem Boden liegt. Wie schwierig fällt es manchen Tätern, Mitgefühl zu erlernen?

Es gibt Jugendliche, die das tatsächlich schwer schaffen. Wir müssen dann daran arbeiten. Es gibt auch Fälle, die ich an Psychologen weiterleite oder an andere Anti-Gewalt-Trainer. Bei unserer Arbeit muss die Chemie stimmen. Wenn ich keine Beziehung aufbauen kann, klappt das Training nicht.

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Wie bauen Sie denn Vertrauen auf und wo liegen Grenzen?

Die Beziehung entwickelt sich über das Zuhören. Meine Rolle besteht nicht darin zu verurteilen, auch wenn manche Fälle erschütternd sind. Schwierig wird es, wenn ich merke, dass ich manipuliert werde. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das von häuslicher Gewalt berichtet hat, und ich habe das beim Jugendamt angezeigt. Das hat sich als Lüge herausgestellt. Wir haben dann nach einem klärenden Gespräch die Arbeit beendet.

Arbeiten Sie eigentlich mit vielen Mädchen? Gewalt gilt doch als Problem von Jungen.

Ich sage es mal so, die Mädchen holen auf. Gewalt von Mädchen ist in der Gesellschaft aber verpönter. Sie gehen deshalb nicht so offen damit um wie Jungen.

Sie haben ein Zusammenhang zwischen Armut in Berlin und der Gewalt an Schulen gezogen. Wie viele Sorgen machen Ihnen die Inflation und die wirtschaftliche Krise?

Das hat natürlich Auswirkungen. Die finanziellen Möglichkeiten von Eltern schrumpfen weiter. Der Stress in den Familien steigt. Schulen und soziale Einrichtungen werden Mittel gekürzt. Sie können weniger kompensieren.

Die Gesellschaft leidet auch mental unter den multiplen Krisen. Erhöht die allgemeine Anspannung auch den Dampf im Kessel an den Schulen?

Junge Menschen sind feinfühlig. Sie reagieren auf das, was um sie herum geschieht. Die Kriege spiegeln sich auf den Schulhöfen wider, wenn es zum Streit zwischen Schülern ukrainischer oder russischer Herkunft oder jüdischen und arabischstämmigen Schülern kommt. Kinder und Jugendliche merken aber auch, dass ihre Eltern unter Strom stehen. Ich erschrecke jedes Mal, wenn ich Mütter oder Väter sehe, die an ihren Kindern zerren, wenn sie sie morgens zu Schule bringen. Natürlich müssen sie pünktlich zur Arbeit, aber ihr Stress überträgt sich auf die Kinder. Wir leben in einer schnelllebigen Zeit. Wir sollten uns bemühen, sie für unsere Kinder etwas zu entschleunigen.

QOSHE - Anti-Gewalt-Trainer: Die Öffentlichkeit fixiert sich auf Neukölln, ich sehe Probleme überall in Berlin - Cedric Rehman
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Anti-Gewalt-Trainer: Die Öffentlichkeit fixiert sich auf Neukölln, ich sehe Probleme überall in Berlin

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26.03.2024

Die Berliner Polizei verzeichnet im Durchschnitt fünf Einsätze am Tag an Berliner Schulen. Diese Zahl geht aus einer Polizeistatistik hervor. Gewalt an Schulen steigt auch bundesweit an. Eine Nachrichtenagentur fragte die Zahlen für das Jahr 2022 im Vergleich zu Jahr 2019, dem Jahr vor der Corona-Pandemie, bei Landeskriminalämtern und Bildungsministerien ab. Die Delikte haben in ganz Deutschland zugenommen. Der Anti-Gewalt-Trainer Rainer Lenz hat in seiner Jugend in Brandenburg Erfahrungen mit Jugendgewalt gemacht. Er hilft nun Kindern und Jugendlichen bei der Kontrolle ihrer Wut. Lenz warnt vor einer entgrenzten Gewalt.

Herr Lenz, laut Statistik hat die Gewalt an Schulen in Berlin und bundesweit zugenommen. Spiegeln sich die Zahlen in ihren Erfahrungen?

Ich habe den subjektiven Eindruck einer leichten Zunahme in den vergangenen beiden Jahren. Mich erreichen im Durchschnitt fünf Anfragen in der Woche aus ganz Berlin und Brandenburg. Mich beunruhigt ein Unterschied zu meinen eigenen Erfahrungen in den 90er-Jahren. Heute geht es richtig los, wenn jemand am Boden liegt. Dann wird losgetreten. Das war damals anders.

Sie erleben also eine Entgrenzung der Gewalt?

Das kann man so sagen. Auch in räumlicher Hinsicht gilt das. Die Öffentlichkeit fixiert sich auf sogenannte Brennpunkte wie Neukölln. Ich sehe Probleme überall in Berlin.

Die Wut hat also im Ausmaß und in der Ausbreitung zugenommen. Woher kommt sie?

Ich arbeite im Training mit den Auslösern für Gewalt. Oft sind das Rachegedanken, empfundene Ungerechtigkeiten und Ehrverletzungen. Die sozialen Medien und das Internet können Konflikte schaffen, etwa durch digitales Mobbing. Sie senken auch die Hemmschwelle, zuzuschlagen, durch Gewaltvideos auf beliebten Plattformen. Ein ganz wichtiger Punkt ist die häusliche Gewalt. Die hat in der Pandemie zugenommen.

Sie sehen also einen Zusammenhang zwischen der Pandemie und vermehrter Kinder- und Jugendgewalt?

Eindeutig. Corona traf viele Jugendliche in........

© Berliner Zeitung


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