Christine Scherzinger und Martin Rutsch müssen sich für ein Gespräch über den Aufbau der neuen Wagenknecht-Partei in Berlin eine Lücke in ihrem Kalender schaufeln. Sie entscheiden sich für ein Getränk in einer Pizzeria vor der Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Tempelhof-Schöneberg. Der Kellner ist etwas enttäuscht, dass niemand Essen bestellt. Aber die Zeit drängt.

Scherzinger und Rutsch sind auf dem Ticket der Linken in die BVV eingezogen. Nun gehören sie der am 8. Januar bundesweit gegründeten Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) an. Sie sind zwei von 50 Neumitgliedern des BSW in der Hauptstadt. Rutsch versichert, dass er und Scherzinger und ihre ehemaligen Genossen der Linken sich noch in die Augen schauen könnten. Scherzinger betont, dass ihr Austritt nichts mit der Arbeit des Bezirksverbandes in Tempelhof-Schöneberg zu tun habe.

Sie lobt ihre frühere Fraktion ausdrücklich. Sie dürfte auch künftig vielen Anliegen der Linken in der BVV zustimmen, sagt sie. Aber es gebe jetzt auch eine neue Beinfreiheit im Umgang mit den Vorschlägen anderer Fraktionen. „Das ist durchaus interessant“, sagt Scherzinger.

Auch Rutsch berichtet von einem Interesse anderer Fraktionen in der BVV, die beiden taufrischen BSW-Abgeordneten für ihre Ideen zu gewinnen. Allerdings seien politische Gräben auf der Bezirksebene ohnehin nicht tief und Berührungsängste klein. „Es geht in der BVV meist um Sachthemen“, sagt er.

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Viel Zeit, die neue Beinfreiheit in der BVV zu genießen, scheinen die beiden Lokalpolitiker ohnehin nicht zu haben. Das BSW will sich am 27. Januar schon zu seinem ersten Parteitag in Berlin treffen. Die Partei mit dem Namen der Frontfrau Sahra Wagenknecht hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Sie will an der Europawahl im Juni teilnehmen und an den drei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Herbst. Gleichzeitig will das BSW erst einmal nicht mehr als 450 neue Mitglieder aufnehmen. Wagenknecht kündigt die Suche nach „konstruktiven Mitgliedern“ an. Eine genaue Definition für den von Neumitgliedern erwarteten guten Willen zur Zusammenarbeit liefert sie nicht.

Rutsch und Scherzinger bestätigen, dass in Berlin viele Gespräche geführt werden. Eine griffige Erläuterung dafür, wer für den Aufbau des Landesverbandes konstruktiv genug ist, fällt auch ihnen schwer. Rutsch warnt vor „Glücksrittern“, die in einer neuen Partei nur Chancen für die eigene Karriere oder die Selbstdarstellung sehen könnten. Scherzinger verweist auf den Gesamteindruck einer Person. Sie betont eine Abgrenzung zur AfD.

Die beiden Neumitglieder erklären, dass viele Interessenten in Berlin von der Linken kämen. Alexander King, Mitglied des Abgeordnetenhauses, ist derzeit einer der prominenten Berliner Ex-Linken beim BSW. Allerdings äußerten auch Mitglieder anderer Parteien in Berlin den Wunsch nach einem Beitritt, sagen Scherzinger und Rutsch. Auch bundesweit ist das Bild gemischt.

Vier ehemalige Linke bilden etwa im Stadtrat von Zwickau in Sachsen eine neue BSW-Fraktion. Der Dresdner Lokalpolitiker Stefan Müller wollte im vergangenen Jahr noch Chef der Dresdner CDU werden. Jetzt ist er BSW-Mitglied. Der erste Landtagsabgeordnete der Partei, Alexander Hartenfels in Rheinland-Pfalz, zog ursprünglich für die Grünen in den Mainzer Landtag ein, verließ diese im Oktober 2022 und war bis zum Einritt beim BSW fraktionslos.

Das BSW will erklärtermaßen mehr sein als eine Abspaltung der Linken. Das erklärt die Offenheit für Mitglieder anderer Parteien. Laut Sahra Wagenknecht strebt das BSW an, Volkspartei zu werden. Sie schüttelt Beobachtern in Politikwissenschaft und Medien zufolge für dieses Ziel das gewohnte Links-rechts-Schema durcheinander, um die Mitte der Gesellschaft anzusprechen. Sozial- und Friedenspolitik, die Forderung nach mehr Ordnung in der Migration, EU-Skepsis und Wertschätzung auch für konservativere Lebensstile sind in der Form in Deutschland noch nie unter den Hut einer Partei gebracht worden.

Für Scherzinger und Rutsch scheint vor allem die Art der Ansprache das BSW von anderen und auch von ihrer ehemaligen Partei zu unterscheiden. Scherzinger kritisiert eine gewisse Überheblichkeit meist akademisch gebildeter Politiker gegenüber Menschen mit einem anderen Bildungshintergrund. Das führe zu einer Sprachlosigkeit zwischen der Politik und Teilen der Gesellschaft. „Davon profitieren die Rechten“, sagt Scherzinger.

Das BSW werde sich bei der Suche nach Mitgliedern darum bemühen, die Breite der Gesellschaft abzubilden, erklären die Bezirksabgeordneten. Nicht nur Mitglieder anderer Parteien seien für die Mitgliedschaft im BSW gefragt, betonen sie. In den anstehenden Europawahlkampf in Berlin könnten für das BSW dann einige neue Mitglieder ziehen, die noch nie einen Wahlkampf bestritten haben. Scherzinger und Rutsch sehen darin keinen Nachteil zur geölten Maschinerie der Konkurrenz mit vielleicht mehr Kampagnenprofis. „Warum soll eine Einzelhandelskauffrau, die vielleicht neu in der Politik ist, das nicht genauso gut schaffen?“, fragt Rutsch.

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Zumindest numerisch scheint die neue Truppe mit einigen Dutzend Neumitgliedern vor dem anstehenden Wahlkampf in Berlin noch überschaubar. „Freiwillige, die nicht Parteimitglied sind, könnten sich ebenfalls beim Kleben von Plakaten oder dem Verteilen von Broschüren beteiligen“, sagt Scherzinger. Ausgerechnet aus der Linken gibt es für die Unterteilung zwischen Mitgliedern und Sympathisanten, die nur unterstützen oder spenden dürfen, harte Kritik. Katina Schubert, bis zum vergangenen Jahr Berliner Landesvorsitzende der Linken, bezeichnet das Auswahlverfahren des BSW für neue Mitglieder als undemokratisch und attestiert der neuen Konkurrenz sogar eine sektenähnliche Struktur.

Christine Scherzinger und Martin Rutsch haben die Prüfung auf Konstruktivität jedenfalls bestanden. Sie zeigen sich zuversichtlich, dass sie mit einer im Vergleich zu anderen Parteien aller Voraussicht nach kleineren Formation in Berlin Erfolg haben werden im anstehenden Europawahlkampf. Das BSW kann bei der Europawahl am 9. Juni erst einmal auf Themen setzen, die von nationaler oder EU-weiter Bedeutung sind, etwa die Frage nach weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine und die Politik gegenüber Russland. Ein detailliertes Programm für die Berliner Belange ist für eine Europawahl nicht nötig.

Auch die Frage, wie sich das Berliner BSW zwischen Schwarz-Rot, Grünen und Linken in Berlin positioniert, muss bis zum Frühsommer nicht geklärt werden.

Die beiden Bezirksabgeordneten drängen zum Aufbruch. Die Sitzung der BVV im Rathaus Schöneberg verspricht einen langen Abend. Es dürfte für Rutsch und Scherzinger noch einige davon geben, bevor ihrer neuen Partei bei der Europawahl am 9. Juni die erste Probe bevorsteht.

QOSHE - BSW im Wahlkampfmodus: Auch in Berlin intensiviert sich die Suche nach „konstruktiven Mitgliedern“ - Cedric Rehman
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BSW im Wahlkampfmodus: Auch in Berlin intensiviert sich die Suche nach „konstruktiven Mitgliedern“

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21.01.2024

Christine Scherzinger und Martin Rutsch müssen sich für ein Gespräch über den Aufbau der neuen Wagenknecht-Partei in Berlin eine Lücke in ihrem Kalender schaufeln. Sie entscheiden sich für ein Getränk in einer Pizzeria vor der Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Tempelhof-Schöneberg. Der Kellner ist etwas enttäuscht, dass niemand Essen bestellt. Aber die Zeit drängt.

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Sie lobt ihre frühere Fraktion ausdrücklich. Sie dürfte auch künftig vielen Anliegen der Linken in der BVV zustimmen, sagt sie. Aber es gebe jetzt auch eine neue Beinfreiheit im Umgang mit den Vorschlägen anderer Fraktionen. „Das ist durchaus interessant“, sagt Scherzinger.

Auch Rutsch berichtet von einem Interesse anderer Fraktionen in der BVV, die beiden taufrischen BSW-Abgeordneten für ihre Ideen zu gewinnen. Allerdings seien politische Gräben auf der Bezirksebene ohnehin nicht tief und Berührungsängste klein. „Es geht in der BVV meist um Sachthemen“, sagt er.

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Viel Zeit, die neue Beinfreiheit in der BVV zu genießen, scheinen die beiden Lokalpolitiker ohnehin nicht zu........

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