Mohammed Jaber El Kasseih hat es nicht geschafft. Seine Familie wartete in einer zur Notunterkunft umfunktionierten Schule in Beith Lahia im Norden Gazas auf seine Rückkehr vom Strand. Dort warfen Amerikaner gemeinsam mit der jordanischen Luftwaffe am 2. März 38.000 Pakete mit Hilfsgütern vom Himmel. Der Lehrer brach am frühen Morgen auf zum Meer. Doch eine riesige Menge hatte sich bereits in den Sanddünen versammelt.

Videos zeigen, wie die Menge in Richtung der Brandung stürmt, als die Pakete auf Sand und auf den Wellen landen. Menschen prügelten sich zum Teil mit Stöcken um die Hilfsgüter. Manche, die leer ausgingen, schrien sich ihre Verzweiflung aus dem Leib. „Ich habe gar nichts bekommen, hier waren so viele Menschen“, schreibt der 35-Jährige in einer WhatsApp-Nachricht.

Es ist schwierig, sich ein Bild von der humanitären Lage im Norden Gazas zu machen. Internationale Helfer sind nur in Ausnahmen im Gazastreifen aktiv. Sie beschränken ihr Einsatzgebiet auf den äußersten Süden Gazas in der Nähe der Grenze zu Ägypten. Die Berliner Hilfsorganisation Cadus gehört zu den wenigen ausländischen Organisationen, die derzeit im Süden von Gaza in Rafah arbeiten. Die deutschen Helfer unterstützen die medizinische Notversorgung von Verletzten.

Israel und Ägypten verwehren ausländischen Journalisten seit Kriegsbeginn die Einreise in den Gazastreifen. Internationale Medien können nur mithilfe lokaler Mitarbeiter über die Lage in Gaza berichten. Der völlig zerstörte Norden des Gazastreifens gilt als besonders schwer erreichbar. Die Straßen sind von Trümmern blockiert. Es gibt kaum Internet und Strom.

09.03.2024

•gestern

10.03.2024

•vor 4 Std.

gestern

Schätzungen sind vage, wie viele Menschen noch im verwüsteten Norden des Gazastreifens ausharren. Circa 80 Prozent der circa zwei Millionen Einwohner Gazas sollen in der Nähe der Grenze zu Ägypten im südlichen Rafah Schutz gesucht haben. Hunderttausende könnten sich aber immer noch im Norden Gazas aufhalten. Die Versorgung mit Lebensmitteln gestaltet sich bereits im mit Geflüchteten überfüllten Süden schwierig. Internationale Organisation werfen Israel vor, Trucks mit Hilfsgütern zu langsam an der Grenze abzufertigen. Israel untersucht jeden Laster nach Waffen und militärisch nutzbaren Gütern. Die Berliner Helfer von Cadus berichteten bereits im Februar von der Gefahr, dass Hungernde in Rafah Hilfstransporte stürmen.

Ein für den Norden bestimmter Hilfskonvoi wurde unter den Augen israelischer Soldaten am 6. März geplündert. Als am 1. März der letzte UN-Konvoi den Norden Gazas erreichte, endete die Hilfslieferung in Blutvergießen. Mehr als 100 Menschen starben in einer Massenpanik. Israelische Soldaten sollen auch Schüsse abgegeben haben, räumte die israelische Armee ein. Es sollen Warnschüsse gewesen sein. Die USA entschlossen als Reaktion auf die Katastrophe, eine Luftbrücke zur Versorgung Gazas einzurichten.

Gaza: USA planen temporären Hafen für Hilfslieferungen

07.03.2024

Gaza-Krieg: Neuer Anlauf im Ringen um Feuerpause

03.03.2024

Den Menschen im isolierten Norden des Gazastreifens bleibt nur das unzuverlässige Internet, um mithilfe von Messenger-Diensten die Welt über ihre Not zu informieren. Ihre Berichte können nicht verifiziert werden, da unabhängige Beobachter nicht vor Ort sind. Die Plünderungen von Hilfskonvois mit Lebensmitteln ergeben allerdings ein Bild, das die Warnungen der UN vor einer Hungersnot in Gaza zu bestätigen scheint. Das Welternährungsprogramm (WFP) der UN verortet 600.000 Menschen in Gaza in der schlimmsten Kategorie von Hunger. Ihr Leben sei akut in Gefahr, warnt die UN.

Der Lehrer Mohammed Jaber El Kasseih schreibt auf WhatsApp, dass die ehemalige Schule völlig überfüllt sei mit 4000 Schutzsuchenden. Seine ganze Familie lebe dort, darunter seien zwölf Kinder. „Unsere Kinder sind sehr schwach geworden, sie sind nur noch Haut und Knochen“, schreibt El Kasseih. Kinder anderer Familien in der Schule seien bereits an Unterernährung gestorben. Auch den Erwachsenen sei die Unterernährung anzusehen. „Jeder hat mindestens die Hälfte an Gewicht verloren“, sagt er.

Der Lehrer erzählt, dass er seine Tage mit der Suche nach Nahrung verbringe. Zuerst habe seine Familie Tierfutter gegessen und „alle Arten von Tieren“. Inzwischen sammele er Pflanzen. „Das Einzige, was wir jeden Tag essen, ist Hibiskus. Aber selbst den findet man kaum noch. Er wächst nur in der Regenzeit und die ist bald zu Ende“, schreibt er. Die Suche nach Nahrung koste Kraft, die ohne regelmäßige Mahlzeiten schwinde. „Es ist so hart, irgendetwas aufzutreiben. Ich hoffe, dass der Krieg bald endet, weil wir durch den Mangel an Essen so schwach und kraftlos geworden sind“, erklärt er.

Einige Geschäfte hätten noch geöffnet. Dort gebe es aber nur noch Süßigkeiten und Snacks zu horrenden Preisen zu kaufen. „Es gibt kein Gemüse, kein Fleisch, kein Fisch“, schreibt er.

Berliner Helfer nach Gaza-Einsatz: „Viele sterben, die nicht sterben müssten“

22.02.2024

Gaza-Krieg: USA stocken Hilfe für Palästinenser um 53 Millionen Dollar auf

27.02.2024

El Kasseih schildert den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in Gaza. Von der Polizei oder Verwaltung sei nichts mehr auf den Straßen zu sehen. Stattdessen setzte sich das Recht des Stärkeren gegenüber jenen durch, die der Hunger bereits geschwächt habe. Die Luftbrücke der Amerikaner und Jordanier könne deshalb wenig ausrichten. „Das ist unmöglich. Der Bedarf ist so hoch, dass er durch Abwürfe aus der Luft nicht zu decken ist. Wir brauchen Lieferungen über den Land- oder Seeweg“, schreibt er. Ähnlich bewerten auch Hilfsorganisationen die Möglichkeiten einer Luftbrücke für Gaza. Die Abwürfe sind außerdem nicht ohne Risiko. Eine Hilfsladung mit defektem Fallschirm erschlug am 8. März mehrere Menschen in Gaza.

Die EU und die USA haben als Reaktion auf den Hunger in Gaza, die Einrichtung einer Seebrücke zur Versorgung des Gebietes von Zypern aus beschlossen. Die USA planen den Bau eines provisorischen Hafens in Gaza gemeinsam mit Partnern. Von dort sollen bis zu zwei Millionen Mahlzeiten am Tag verteilt werden. Das US-Verteidigungsministerium schätzt, dass der Hafen in zwei Monaten seinen Betrieb aufnehmen könnte. Bis dahin sollen Schiffe von Zypern aus, die Hilfe zu den Notleidenden in Gaza bringen. Geprüft wird auch eine Beteiligung der Bundesmarine. Israel stehe der geplanten Seebrücke positiv gegenüber, erklärte der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, im Deutschlandfunk.

Mohammed Jaber El Kasseih beschreibt in seinen Nachrichten quälende Fantasien von Essen. Er träume von Mehl und anderen Nahrungsmitteln, die er nicht auftreiben kann, während ihn der Hunger plage. „Wir essen den ganzen Tag nichts und am Abend fühlt sich das wie Sterben an“, schreibt er.

QOSHE - Hunger in Gaza: Die Menschen im Norden essen Gras - Cedric Rehman
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Hunger in Gaza: Die Menschen im Norden essen Gras

8 3
12.03.2024

Mohammed Jaber El Kasseih hat es nicht geschafft. Seine Familie wartete in einer zur Notunterkunft umfunktionierten Schule in Beith Lahia im Norden Gazas auf seine Rückkehr vom Strand. Dort warfen Amerikaner gemeinsam mit der jordanischen Luftwaffe am 2. März 38.000 Pakete mit Hilfsgütern vom Himmel. Der Lehrer brach am frühen Morgen auf zum Meer. Doch eine riesige Menge hatte sich bereits in den Sanddünen versammelt.

Videos zeigen, wie die Menge in Richtung der Brandung stürmt, als die Pakete auf Sand und auf den Wellen landen. Menschen prügelten sich zum Teil mit Stöcken um die Hilfsgüter. Manche, die leer ausgingen, schrien sich ihre Verzweiflung aus dem Leib. „Ich habe gar nichts bekommen, hier waren so viele Menschen“, schreibt der 35-Jährige in einer WhatsApp-Nachricht.

Es ist schwierig, sich ein Bild von der humanitären Lage im Norden Gazas zu machen. Internationale Helfer sind nur in Ausnahmen im Gazastreifen aktiv. Sie beschränken ihr Einsatzgebiet auf den äußersten Süden Gazas in der Nähe der Grenze zu Ägypten. Die Berliner Hilfsorganisation Cadus gehört zu den wenigen ausländischen Organisationen, die derzeit im Süden von Gaza in Rafah arbeiten. Die deutschen Helfer unterstützen die medizinische Notversorgung von Verletzten.

Israel und Ägypten verwehren ausländischen Journalisten seit Kriegsbeginn die Einreise in den Gazastreifen. Internationale Medien können nur mithilfe lokaler Mitarbeiter über die Lage in Gaza berichten. Der völlig zerstörte Norden des Gazastreifens gilt als besonders schwer erreichbar. Die Straßen sind von Trümmern blockiert. Es gibt kaum Internet und........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play