Das Publikum füllte den holzgetäfelten Veranstaltungsraum im Literarischen Colloquium am Wannsee bis auf den letzten Platz. Die Veranstalter stellten noch in einem Nebenraum hinter der geöffneten Tür weitere Stühle auf, damit alle sitzen konnten. Einzelne Gäste trugen einen Palästinenserschal. Andere hielten ein Glas Weißwein in der Hand.

Als Adania Shibli das Podium betrat, erhob sich Applaus. Beifall unterbrach auch immer wieder Äußerungen der Schriftstellerin. Es war ihr erster öffentlicher Auftritt in Deutschland, seit ihr Roman „Eine Nebensache“ im vergangenen Herbst von einem Literaturkritiker in der taz in die Nähe von Hetze gegen Israel gerückt worden war. Die Literatin mit palästinensischen Wurzeln schilderte während der Veranstaltung, wie treu ihre Leser in Deutschland ihr auch nach dem Skandal um die auf unbestimmte Zeit verschobene Verleihung des LiBeraturpreises auf der Frankfurter Buchmesse verbunden seien.

Für die scheu wirkende Autorin glich der Auftritt am Wannsee einem Heimspiel. Viele Bewunderer saßen im Publikum. Der niederländische Autor Arnon Grünberg umtänzelte als Moderator den umstrittenen Rückzieher des literarischen Vereins LitProm auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2023. Er stellte ausführlich Fragen zu dem als antiisraelisch kritisierten Roman „Eine Nebensache“, der auf Deutsch bei Berenberg erschienen ist. Die Autorin musste sich von Grünberg dabei aber nie herausgefordert fühlen.

Shibli las Passagen des Buches auf Arabisch vor. Das Publikum konnte dem melodischen Klang des Originaltexts folgen. Wer kein Arabisch spricht, konnte die Autorin nicht verstehen. Warum die Schriftstellerin keine englische Übersetzung verwendete, obwohl sie sich im anschließenden Gespräch mit Grünberg auf Englisch austauschte, behielten Shibli und die Moderation für sich.

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Dabei versteht Shibli es, präzise zu formulieren. Sie nimmt die Leser in ihrem Roman „Eine Nebensache“ mit auf den Leidensweg eines im August 1949 von einer israelischen Patrouille aufgegriffenen Beduinenmädchens. Shibli beschreibt ein Grauen, das Frauen in vielen Kriegsgebieten widerfährt. Aus einer Frau wird ein Ding, das den sich in Uniform allmächtig fühlenden Männern ausgeliefert ist. Sie wird gebraucht und entsorgt. Die Begebenheit soll sich im Jahr nach der Staatsgründung Israels in der Negev-Wüste ereignet haben. Shibli verarbeitet die sexuelle Ausbeutung und Ermordung des Mädchens zu zwei Novellen, die sie miteinander kombiniert.

Die Autorin taucht im ersten Teil des Buches in die Gedankenwelt des Befehlshabers der Truppe ein. Sie beschreibt einen kalten Technokraten des Krieges. Kritiker erkannten eine klischeehafte Darstellung des für Effizienz bekannten israelischen Militärapparats. Shibli machte während der Veranstaltung deutlich, dass sie einen Widerwillen gegen Männer in Uniform verspürt. Wer Berichte über Vergewaltigungen während des Bosnienkrieges oder über die Erniedrigungen ukrainischer Frauen durch russische Soldaten in Butscha vor Augen hat, kann zu anderen und universelleren Schlüssen kommen als die Kritiker Shiblis. Für Frauen ist Krieg die Hölle, weil er die zivilisatorischen Ketten für Männer sprengt.

Menasse und Yücel zu Israel-Position des PEN Berlin: Warum ist Meinungsstreit ein Problem?

05.12.2023

Adania Shibli: Die Frau als Kriegsbeute, die Frau in Angst

17.06.2022

Shiblis zweite Novelle folgt den Spuren einer Palästinenserin aus Ramallah. Sie liest von dem Verbrechen. Es geschah 25 Jahre vor ihrer Geburt. Dieser Umstand genügt, um die Frau als Hobby-Detektivin an den Ort der Tat im Süden Israels zu führen. Shibli mutmaßt auf dem Podium, warum dieser Zufall ihre Protagonistin dazu treibt, kein Hindernis zu scheuen, um von den besetzten Gebieten ins israelische Kernland zu reisen. Letztlich unterscheide nur der Faktor Zeit die Welt der Ich-Erzählerin von der des Beduinenmädchens, erklärt sie.

Der Moderator hätte kritisch nachhaken können, ob die Autorin die durch die Besatzung limitierte Bewegungsfreiheit mit Vergewaltigung und Mord gleichsetzt. Interessant wäre es auch gewesen, mehr zu erfahren, wie Shibli nach einem halben Jahr auf die Debatte um ihre Person zurückblickt. Der Moderator versuchte es. Grünberg wollte von Shibli wissen, wie sie sich damals gefühlt habe im Zentrum eines Sturms. Er erfährt, dass die Autorin sich nur am Rande der atmosphärischen Störung um ihre Würdigung gesehen hat. Sie erweckte den Eindruck, der Trubel habe sie nicht tangiert. Shibli entzieht sich und gleicht einem Rätsel, das jeder Leser für sich selbst lösen muss.

QOSHE - Lesung in Berlin: Die Autorin Adania Shibli bricht ihr Schweigen, bleibt aber vage - Cedric Rehman
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Lesung in Berlin: Die Autorin Adania Shibli bricht ihr Schweigen, bleibt aber vage

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19.04.2024

Das Publikum füllte den holzgetäfelten Veranstaltungsraum im Literarischen Colloquium am Wannsee bis auf den letzten Platz. Die Veranstalter stellten noch in einem Nebenraum hinter der geöffneten Tür weitere Stühle auf, damit alle sitzen konnten. Einzelne Gäste trugen einen Palästinenserschal. Andere hielten ein Glas Weißwein in der Hand.

Als Adania Shibli das Podium betrat, erhob sich Applaus. Beifall unterbrach auch immer wieder Äußerungen der Schriftstellerin. Es war ihr erster öffentlicher Auftritt in Deutschland, seit ihr Roman „Eine Nebensache“ im vergangenen Herbst von einem Literaturkritiker in der taz in die Nähe von Hetze gegen Israel gerückt worden war. Die Literatin mit palästinensischen Wurzeln schilderte während der Veranstaltung, wie treu ihre Leser in Deutschland ihr auch nach dem Skandal um die auf unbestimmte Zeit verschobene Verleihung des LiBeraturpreises auf der Frankfurter Buchmesse verbunden seien.

Für die scheu wirkende Autorin glich der Auftritt am Wannsee einem Heimspiel. Viele Bewunderer saßen im Publikum. Der niederländische Autor Arnon Grünberg umtänzelte als Moderator........

© Berliner Zeitung


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