Olga Galkina las die Nachricht vom Tod Alexej Nawalnys am 16. Februar auf dem Weg ins russische Zentrum „Reforum Space“ in Kreuzberg. Sie eilte an jenem Freitagmorgen in die Zentrale für Aktivisten der russischen Opposition, wo sie als Koordinatorin arbeitet. Dort ließ sie ihren Tränen freien Lauf. „Wir haben alle geweint, und wir stehen immer noch alle unter Schock“, sagt sie.

Ein Foto von Nawalny hängt an einer Wand des „Reforum Space“. Das Bild zeigt den Kreml-Kritiker, als er bei einer Kundgebung aus seinen Händen ein Herz formt. Die Geste wurde durch eine andere bekannte Dissidentin populär. Maria Kolesnikowa sitzt seit 2020 in Belarus im Gefängnis. Die Wahlkampfmanagerin eines Oppositionskandidaten formte bei Protesten gegen die Wiederwahl von Alexander Lukaschenko im August 2020 immer wieder aus ihren Händen ein Herz – als Zeichen des friedlichen Protests.

Nawalny benutzte dieses Zeichen, bevor er nach seiner Rückkehr aus Deutschland nach Russland im Januar 2021 am Moskauer Flughafen verhaftet wurde. Er hatte sich zuvor in Berlin über mehrere Monate von einer Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok erholt.

Nawalny, der unter ungeklärten Umständen in einem sibirischen Straflager starb, ist für die Dissidentin Galkina mehr als eine auf Fotografien verewigte Ikone. Die Koordinatorin des „Reforum Space“ kannte den prominentesten Gegner Wladimir Putins. Sie gehörten beide einmal der liberalen Partei Jabloko an. „Er war eine starke Persönlichkeit und er hatte viel Humor“, erinnert sie sich.

Galkina erzählt, dass sie Nawalny bei einer überregionalen Parteiveranstaltung getroffen, aber nicht eng gekannt habe. Sie saß für Jabloko als Abgeordnete im Stadtparlament von Sankt Petersburg. Nawalny engagierte sich in Moskau für die Partei. Jabloko schloss Nawalny nach den Parlamentswahlen 2007 aus. Die Partei errang keinen einzigen Sitz in der Duma. Nawalny kritisierte die Parteiführung öffentlich. Jabloko trennte sich nach der Wahl von Nawalny.

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Die Partei begründete den Rausschmiss mit rassistischen und nationalistischen Äußerungen des Oppositionellen. Die frühere Lokalpolitikerin räumt ein, dass sie nicht alle Standpunkte Nawalnys geteilt habe. „Wir sind auch in der Opposition nicht in allem einer Meinung“, sagt sie.

Der 20 Jahre alte Ivan Schiskin, der für die deutsche Sektion der Kampagne „Free Nawalny“ im Einsatz ist, sitzt neben Olga Galkina am Tisch, trinkt eine Tasse Tee. Der Student trägt einen bunt bedruckten Hoodie. Schiskin kannte Nawalny in Russland nur als Blogger, der im Internet Bestechlichkeit anprangerte. Der Staat löste Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung FBK 2021 auf.

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Schiskin floh erst 2022 nach Deutschland. Er habe sich an Protesten gegen den russischen Angriff auf die Ukraine beteiligt und seine Verhaftung befürchtet, erzählt er. Nawalny hatte sich ebenfalls gegen die Invasion ausgesprochen. Schiskin schloss sich in Berlin der Bewegung an, die Nawalnys Freilassung aus dem Straflager forderte.

Auch Schiskin spricht von einem Schock nach der Nachricht vom Tod Nawalnys. Putin habe den Russen zuerst das Land und dann mit dem Tod Nawalnys die Zukunft gestohlen, sagt er. Seine Verzweiflung sei aber schon nach wenigen Tagen der Wut gewichen. „Nawalny hat uns in einem Videoclip aufgefordert, keine Angst zu haben“, sagt er. Die Kampagne „Free Nawalny“ werde ihre Arbeit für einen politischen Wandel in Russland fortsetzen, auch wenn ihre Forderung sich mit dem Tod des Oppositionellen auf tragische Weise erledigt hat, sagt er.

Schiskin und Galkina setzen auf Nawalnys Ehefrau Julia Nawalnaja als neue Galionsfigur der Opposition. Sie hielt bei der Münchner Sicherheitskonferenz eine viel beachtete Rede. Die Nachricht vom Tod Nawalnys hatte das Treffen am vorvergangenen Wochenende überschattet und geprägt. Nawalnys Frau sagte, sie werde die Arbeit ihres Mannes für einen Wandel in Russland fortsetzen. Ob sie plant, nach Russland zurückzukehren, ist unbekannt. Ihr Mann habe mit seiner Selbstauslieferung an die russischen Behörden im Januar 2021 ein Zeichen setzen wollen.

Bisher deutet wenig darauf hin, dass Alexej Nawalny wie einst Nelson Mandela in Südafrika durch seine Haft zum Volkshelden wurde. Sein Tod hat bisher keine größeren Proteste ausgelöst. Die Polizei verhaftete Hunderte von Menschen, die zum Beispiel in Moskau vor dem Mahnmal für die Opfer politischer Verfolgung Blumen niederlegten. Die russischen Behörden nutzen den Tod bisher für eine Demonstration der Macht.

Die Pläne der Dissidenten in Berlin zeigen, wie klein der Spielraum für oppositionelle Aktivitäten in Russland geworden ist. Sie verraten, dass die Exil-Opposition vom Ausland aus Aufrufe startet, bei den Präsidentschaftswahlen vom 15. bis zum 17. März in Russland zu einer bestimmten Uhrzeit wählen zu gehen. „Das ist nicht verboten, aber die Menschen können so ein Zeichen setzen, dass sie gegen Putin sind“, erklärt Galkina. An seiner Wiederwahl werde das nichts ändern, räumt sie ein.

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Galkina und Schiskin können durch ein Glasfenster auf die Wiener Straße schauen. Passanten können sie wiederum von der Straße aus beobachten. Die Adresse des „Reforum Space“ ist im Internet zu finden. Ein zu den ukrainischen Truppen übergelaufener russischer Hubschrauberpilot soll am 13. Februar in der südspanischen Provinz Alicante erschossen worden sein. Der Tiergartenmord an einem Tschetschenen 2019 ist in Berlin unvergessen; deutsche Behörden beschuldigen den russischen Geheimdienst FSB als Drahtzieher hinter dem Verbrechen.

Olga Galkina fürchtet, nach dem Tod Nawalnys könnten weitere Dissidenten ins Visier geraten. Sie selbst fühle sich in Deutschland aber sicher. Russische Oppositionelle müssten mit einem Restrisiko leben. „Wir haben uns daran gewöhnt“, sagt sie.

Das Berliner Büro der Menschenrechtsorganisation Memorial liegt in einem Hinterhof in Prenzlauer Berg. Hinter einer Metalltür führt ein schlauchartiger Gang zu den Büros. Anke Giesen sitzt im Vorstand der internationalen Vereinigung Memorial und in dem der deutschen Sektion. Memorial, 1989 in der Zeit der Perestroika gegründet, wurde in Russland 2022 verboten. Die Organisation strebte in Russland eigentlich die Aufarbeitung kommunistischer Verbrechen an. Sie kritisierte aber auch zunehmend die autokratische Politik Wladimir Putins.

Giesen schätzt die Bedrohungslage für Dissidenten in Berlin nach dem Tod Nawalnys nicht höher ein als in der Vergangenheit. Der russische Staat habe immer wieder bewiesen, dass sein Arm ins Ausland reicht. In Gefahr schwebten jene, von denen sich Russlands Präsident bedroht fühle. Und Abweichler aus seinem Apparat. „Verrat ist etwas, dass Putin nicht verzeihen kann“, sagt sie.

Nawalny sei der Spott zum Verhängnis geworden, mit dem er die Nomenklatura bloßstellte. „In seinen Videos erschien Putin als Krimineller mit schlechtem Geschmack. Nawalny kam mit seinem Humor vor allem bei jungen Russen an“, sagt Giesen. Das Gros der Oppositionellen im In- und Ausland nehme der russische Präsident hingegen kaum ernst.

Die Memorial-Vorständin beschreibt die Stimmung unter russischen Dissidenten nach dem Tod Alexej Nawalnys als kollektive Depression. Ivan Schiskins Eindruck, dem Land sei mit dem Tod der Oppositionsikone die Zukunft gestohlen worden, teilen laut Giesens Einschätzung viele.

Ohnehin sei die Lage für viele Russen im deutschen Exil schwierig. Seit Beginn des Krieges bekämen sie kaum noch dauerhafte Aufenthaltsgenehmigungen in Deutschland. Rund 2000 Russen hätten seit Februar 2022 als Verfolgte ein humanitäres Visum für die Bundesrepublik erhalten, sagt Giesen. Andere hielten sich dank Stipendien von mit Memorial verbundenen Einrichtungen in Deutschland auf. Doch ein Stipendium läuft irgendwann einmal aus. Eine dauerhafte Lösung ist nicht in Sicht.

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Die Erschütterung durch den Tod von Nawalny hänge auch mit der Verfasstheit der Opposition zusammen, erklärt Giesen. Sie sei institutionell schwach und setze ihre Hoffnungen auf eine Lichtgestalt, die einem Übermenschen gleich den Wandel bewirken soll. Sie verwendet das Wort „Personenkult“, das im Zusammenhang mit Stalin geprägt wurde. Davor sei auch die Opposition nicht gefeit, sagt Giesen.

Alexej Nawalny galt etwa in der Ukraine als Nationalist, der ein Großrussland ohne Putin errichten wollte. Nawalny sprach sich für die Annexion der Krim 2014 aus und befürwortete Russlands Feldzug gegen Georgien 2008. Andere verwiesen auf diskriminierende Äußerungen Nawalnys gegen Kaukasier und Zentralasiaten. Westliche Kritiker mahnten, Nawalny schwebe ein ethnisch reines Russland vor, während Putin von einem von Moskau gelenkten Vielvölkerimperium nach dem Vorbild der UdSSR träume.

Nawalny sei als Politiker bei Memorial durchaus umstritten gewesen, sagt Giesen. „Aber er wurde als politischer Gefangener anerkannt“, sagt sie. Nawalny werde als Symbol der Unbeugsamkeit jenseits seiner politischen Überzeugungen weiter wirken. Die Dissidenten könnten das Exil in westlichen Demokratien wie Deutschland nutzen, um politisch zu reifen. Solange Russland sich nicht völlig vom westlichen Internet abtrenne, könnten sie über Telegram und andere Kanäle auf die Heimat einwirken. „Solchen intensiven Austausch zwischen dem Exil und Russland gab es in der Sowjetzeit nie“, sagt Giesen.

Sie hofft, eine professionelle Opposition im Ausland werde eine bessere Ausgangslage für eine Gestaltung eines Russlands nach Putin haben als die zerstrittenen Dissidenten nach dem Kollaps der UdSSR 1991. Wann es so weit sein wird und ob dann die Demokratie eine Chance habe, könne niemand wissen, sagt Giesen.

Olga Galkina verließ mit ihrer Familie Russland nach der Invasion in der Ukraine. Sie hatte wie Ivan Schiskin gegen den Krieg protestiert und auch sie fürchtete ihre Festnahme. Ihr Mann habe sich als Historiker mit der Geschichte der russischen Dissidenten in der Zarenzeit und unter dem Kommunismus beschäftigt, erzählt sie. „Mein Mann hätte sich nie träumen lassen, dass er selbst einmal aus Russland fliehen muss“, sagt sie. Auch Ivan Schiskin erkennt historische Kontinuitäten. „Ich bin Realist und weiß, dass auch die Dissidenten im 20. Jahrhundert auf eine baldige Rückkehr gehofft haben“, sagt er. Aufgeben sei aber keine Option. Alexej Nawalny mache ihm noch immer Mut.

QOSHE - Russen im Berliner Exil: Nawalny macht uns auch nach seinem Tod Mut - Cedric Rehman
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Russen im Berliner Exil: Nawalny macht uns auch nach seinem Tod Mut

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26.02.2024

Olga Galkina las die Nachricht vom Tod Alexej Nawalnys am 16. Februar auf dem Weg ins russische Zentrum „Reforum Space“ in Kreuzberg. Sie eilte an jenem Freitagmorgen in die Zentrale für Aktivisten der russischen Opposition, wo sie als Koordinatorin arbeitet. Dort ließ sie ihren Tränen freien Lauf. „Wir haben alle geweint, und wir stehen immer noch alle unter Schock“, sagt sie.

Ein Foto von Nawalny hängt an einer Wand des „Reforum Space“. Das Bild zeigt den Kreml-Kritiker, als er bei einer Kundgebung aus seinen Händen ein Herz formt. Die Geste wurde durch eine andere bekannte Dissidentin populär. Maria Kolesnikowa sitzt seit 2020 in Belarus im Gefängnis. Die Wahlkampfmanagerin eines Oppositionskandidaten formte bei Protesten gegen die Wiederwahl von Alexander Lukaschenko im August 2020 immer wieder aus ihren Händen ein Herz – als Zeichen des friedlichen Protests.

Nawalny benutzte dieses Zeichen, bevor er nach seiner Rückkehr aus Deutschland nach Russland im Januar 2021 am Moskauer Flughafen verhaftet wurde. Er hatte sich zuvor in Berlin über mehrere Monate von einer Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok erholt.

Nawalny, der unter ungeklärten Umständen in einem sibirischen Straflager starb, ist für die Dissidentin Galkina mehr als eine auf Fotografien verewigte Ikone. Die Koordinatorin des „Reforum Space“ kannte den prominentesten Gegner Wladimir Putins. Sie gehörten beide einmal der liberalen Partei Jabloko an. „Er war eine starke Persönlichkeit und er hatte viel Humor“, erinnert sie sich.

Galkina erzählt, dass sie Nawalny bei einer überregionalen Parteiveranstaltung getroffen, aber nicht eng gekannt habe. Sie saß für Jabloko als Abgeordnete im Stadtparlament von Sankt Petersburg. Nawalny engagierte sich in Moskau für die Partei. Jabloko schloss Nawalny nach den Parlamentswahlen 2007 aus. Die Partei errang keinen einzigen Sitz in der Duma. Nawalny kritisierte die Parteiführung öffentlich. Jabloko trennte sich nach der Wahl von Nawalny.

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Die Partei begründete den Rausschmiss mit rassistischen und nationalistischen Äußerungen des Oppositionellen. Die frühere Lokalpolitikerin räumt ein, dass sie nicht alle Standpunkte Nawalnys geteilt habe. „Wir sind auch in der Opposition nicht in allem einer Meinung“, sagt sie.

Der 20 Jahre alte Ivan Schiskin, der für die deutsche Sektion der Kampagne „Free Nawalny“ im Einsatz ist, sitzt neben Olga Galkina am Tisch, trinkt eine Tasse Tee. Der Student trägt einen bunt bedruckten Hoodie. Schiskin kannte Nawalny in Russland nur als Blogger, der im Internet Bestechlichkeit anprangerte. Der........

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