Amara Zainas Smartphone gibt einen Bling-Ton von sich. Eine Nachricht ploppt auf ihrem Display auf. „Das ist meine Cousine aus Gaza“, ruft sie. Die Überraschung ist ihr anzuhören. Das letzte Lebenszeichen der Cousine hat sie im März empfangen.

Die 24-Jährige erhält die Nachricht in einem Café unweit des Landwehrkanals. Zaina studiert Geschichte und malt in ihrer Freizeit. Sie gibt den bei Kunstprojekten von ihr genutzten Aliasnamen an. Zaina will nicht mir Klarnamen erkennbar sein. Sie sorge sich unter anderem vor Attacken in sozialen Netzwerken, sagt sie. Nur so viel: Ihre Eltern sind dereinst aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet. Zaina ist in Berlin zur Welt gekommen, aufgewachsen ist sie in Charlottenburg. Zaina gehört zu einer losen Freundesgruppe, die Kontakt hält zu Angehörigen von Kriegstoten in Berlin-Neukölln. Zu den Betroffenen zählten im Bezirk lebende Geflüchtete aus Gaza und Neuköllner palästinensischer Herkunft, erklärt die Studentin. Zaina und ihre Freunde gehen mit den Trauernden nach Kundgebungen essen oder drehen mit ihnen eine Runde. Sie begleite die Geflüchteten auch auf Ämter, erzählt sie.

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Manche Betroffene kennt sie vom Neuköllner Kunstprojekt „Grieving Doves“, auf Deutsch: „Trauernde Tauben“. Künstler sammeln die Namen von Kriegstoten in Gaza und schreiben sie auf Papiere. Aus den Zetteln entstehen Flügel. Aktivisten tragen sie als Friedenssymbol. Neuköllner schickten dem Künstlerkollektiv auf Social Media auch die Namen ihrer im Krieg gestorbenen Angehörigen, erzählt Zaina. Meist handele es sich um entferntere Angehörige. „Wer in Neukölln schon seit Jahrzehnten lebt, hat in der Regel Onkel und Tanten oder Cousins und Cousinen in Gaza verloren, bei den Geflüchteten sind es oft die engsten Verwandten“, sagt sie.

Sie sei selbst erstaunt gewesen, wie viele Neuköllner mit palästinensischen Wurzeln wie Zaina Familie in Gaza haben. „Der Bruder meiner Mutter lebt in Gaza. Ich dachte früher, ich sei eine Ausnahme“, sagt sie. Sie habe in den vergangenen Kriegsmonaten von immer mehr Bekannten in Neukölln erfahren, dass nicht nur Verwandte in Gaza lebten, sondern Angehörige bereits im Krieg gestorben seien. „Von circa 100 Personen, die ich in Neukölln kenne, haben ungefähr schon 30 jemanden verloren“, sagt sie.

Rund 40.000 Neuköllner sind laut Schätzungen palästinensischer Herkunft. Ihre Familien flüchteten in den 80er-Jahren nach West-Berlin. Viele staatenlose Palästinenser flohen damals vor dem Bürgerkrieg im Libanon. Palästinenser leben seit der Gründung des Staates Israel 1948 im Zedernstaat meist in Flüchtlingslagern. Die ehemalige DDR erlaubte ihnen die Einreise. Die Palästinenser zogen weiter nach West-Berlin. Viele palästinensische Familien siedelten sich rund um die Neuköllner Sonnenallee an.

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•vor 4 Std.

Zaina hält unter anderem Kontakt zu drei Brüdern aus Gaza, die vor dem 7. Oktober in Berlin angekommen sind. Ein weiterer Bruder blieb in Gaza zurück. Er ist inzwischen bei einem Luftangriff ums Leben gekommen. Sie klingt ratlos, wenn sie vom Umgang der Betroffenen mit ihren Verlusten erzählt. Der jüngste Bruder sei 15 Jahre alt. „Er isst kaum etwas und wenn er mal einen Bissen gegessen hat, muss er sich übergeben“, sagt sie.

Professionelle Hilfe etwa durch psychosoziale Dienste nehme niemand in Anspruch, den sie kenne. Zaina vermutet kulturelle Hintergründe. Therapeutische Angebote seien Menschen mit arabischem Hintergrund oft fremd, sagt sie. Andere zweifelten an, dass sie ein Recht auf ihre Emotionen haben. „Sie sagen, den Menschen in Gaza geht es wirklich schlecht, wir haben es doch gut“, sagt sie.

Jene, die keine Opfer unter den Verwandten zu beklagen hätten, quäle Ungewissheit. Jeder Tag ohne ein Lebenszeichen könne das Schlimmste bedeuten, erklärt die Studentin. Telefon und Internet funktionieren in Gaza aber nur sporadisch. „Mein Onkel lässt es manchmal klingeln, geht aber nicht ran. Dann weiß meine Mutter wenigstens, dass er noch lebt“, sagt Zaina.

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Die Trauer in Neukölln ist für Außenstehende unsichtbar. Die palästinensische Community scheint auf Tauchstation gegangen zu sein. Es gab im Herbst Vorwürfe, Polizei und Behörden gingen bei Kundgebungen repressiv vor. Die Polizei verzeichnete dagegen Angriffe von Demonstranten in Neukölln auf Ordnungskräfte. Kritik wurde auch an der Berichterstattung in den Medien über die Kundgebungen geäußert.

Zaina beobachtet, dass sich die Neuköllner mit palästinensischen Wurzeln einigeln. Sie trügen ihren Schmerz nicht nach außen. Kundgebungen gegen den Krieg in Gaza gibt es nach wie vor in Neukölln. Aber sie bestimmen nicht mehr den Alltag rund um die Sonnenallee wie im Herbst. Während die humanitäre Krise in Gaza sich in den vergangenen Monaten zuspitzte, flaute die Wucht der Proteste in Neukölln ab. Zaina macht sich ihren eigenen Reim auf die Beruhigung. „Viele sehen in Demonstrationen keinen Sinn mehr. Sie sagen, es hört ihnen doch niemand zu“, sagt Zaina. Die Sprachlosigkeit macht der Neuköllnerin Sorgen. Sie wertet den Rückzug aus der Gesellschaft als kollektive Depression. „Ich glaube, nichts wird wieder so sein in Neukölln wie vor dem Krieg“, sagt sie.

QOSHE - Trauerarbeit in Neukölln: Der Krieg reicht bis in die Nachbarschaft - Cedric Rehman
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