Vielleicht trifft eine Schlagzeile den Kern des Problems. Vielleicht sagt sie mehr aus als alle Reden, Bekenntnisse und Abhandlungen im Rückblick auf die Corona-Pandemie. Andreas Brieschke fällt sie in dem Moment ein, als es um Missverständnisse geht, Vorurteile, die Unfähigkeit, miteinander zu sprechen. Und um die Unart, stattdessen übereinander herzufallen. Die Schlagzeile stammt vom August 2020, sie lautete: „Heilpraktikerin ruft zum Sturm auf den Reichstag auf“.

Andreas Brieschke ist selbst Heilpraktiker und an diesem Vormittag im April in seiner Berliner Praxis. Draußen treibt ein kalter Nieselregen Menschen über die Linienstraße in Mitte vor sich her. Hier drin im Behandlungszimmer ist es angenehm hell, warm und ruhig. Im Zentrum des Raums steht ein langer Tisch. Er erinnert entfernt an einen OP-Tisch, nur dass ein gelbes Laken darüberliegt. Brieschke ist auch Körpertherapeut. Sein Schwerpunkt liegt in der Pflanzenheilkunde. Homöopathie? „Naturheilkunde“, sagt der 58-Jährige. „Ich verwende Naturheilverfahren und individuelle Heilpflanzenmischungen, gelegentlich gebe ich auch homöopathische Mittel.“

Doch das soll erst einmal nicht das Thema sein. Thema sind mögliche Lehren aus der Pandemie, das Verhältnis der alternativen, komplementären Medizin zur Schulmedizin und die Frage, ob die eine von der anderen profitieren kann. Wo erreicht die Naturheilkunde ihre Grenzen und muss Ärzten den Vortritt lassen? Wo leistet sie einen sinnvollen Beitrag?

Zum Beispiel in einer Pandemie, weil Heilpraktiker eben nicht per se fehlgeleitete Geister sind mit einem Drall ins Rechtsextreme, die „Corona-Diktatur“ brüllen und die Treppen des Reichstags hinaufrennen. Das ZDF betitelte damals einen Beitrag mit: „Die Siegheilpraktikerin“. Brieschke sagt: „Eine verwirrte Frau aus der Eifel, die zufällig in dem Beruf gearbeitet hat. Schmerzhaft, wenn so ein ganzer Berufsstand über einen Kamm geschoren wird.“

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Rund 47.000 Heilpraktiker gibt es in Deutschland. Pro Tag kümmern sie sich um insgesamt 128.000 Menschen. „Die überwiegende Mehrheit übt ihren Beruf verantwortungsvoll und erfolgreich aus, sonst würde sie ja niemand bezahlen“, sagt Brieschke. „Die meisten Heilpraktiker, die ich kenne, haben eine naturwissenschaftliche Ausbildung.“ Doch für Schlagzeilen sorgen die schwarzen Schafe. Wie etwa jener Mann aus Nordrhein-Westfalen, der 2016 Menschen mit einem Wirkstoff behandelte, der nicht als Arznei zugelassen ist, und sie damit in Gefahr brachte, drei seiner Klienten sogar umbrachte. Die Erkrankten, die sich ihm anvertraut hatten, fürchteten sich vor den Nebenwirkungen einer Chemotherapie.

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28.03.2024

Während der Pandemie waren es andere Ängste, die seltsame Blüten trieben, die Skepsis gegenüber kaum erprobten Impfstoffen vor allem. „Da geisterten die verrücktesten Dinge durch die Alternativszene“, sagt Brieschke. „Leute nahmen Pferdewurm-Präparate oder andere angebliche Wundermittel.“ Brieschke spricht von Gräben, die sich während dieser Zeit in der Medizin aufgetan hätten. Bleibt man bei diesem Bild, hockten im gegenüberliegenden Graben diejenigen, die sich auf wissenschaftliche Evidenz beriefen und alles, was nicht damit dienen konnte, als sinnlos brandmarkten. Die jedoch, wie Brieschke sagt, bei ihrer eigenen Suche selbst in Sackgassen geraten seien. Ein Glaubenskrieg.

Zum Beispiel um Vitamin D. Während der Hochphase der Pandemie im Jahr 2021 verzeichnete allein die Datenbank cliniclatrials.gov an die 100 Studien, die sich mit dessen Wirkung auf den Krankheitsverlauf bei Covid-19 befassten. Ein Vitamin als Waffe gegen das Virus, effizient und dazu rezeptfrei verfügbar? Oder doch nur ein Placebo?

Brieschke blickt auf seinen Laptop vor sich auf dem Tisch, als wolle er noch einmal nachschauen, wie das damals genau war. Doch das muss er gar nicht, diese ersten Wochen und Monate mit Corona sind in seiner Erinnerung noch sehr präsent. „Niemand hat sich getraut zu sagen: Wir wissen es einfach nicht.“ Er empfand diese Zeit als extrem – mit schlimmen Konsequenzen. „Menschen, die Corona-Maßnahmen kritisch bewertet haben, wurden sehr weit in eine Ecke getrieben, in der sie sonst wahrscheinlich nicht gelandet wären. Außerdem wurde eine Riesenchance verpasst, Menschen zu gesundheitsförderndem Verhalten anzuleiten. Naturheilkunde hätte hier viel beizutragen.“

Gesellschaftliche Krisen fördern mitunter überalterte Klischees zutage. Sie dienen in unübersichtlicher Lage der Orientierung, simulieren Gewissheit, wo Unwissenheit herrscht. In der Pandemie überlagerten sie die Realität. Längst haben sich Naturheilkunde und Schulmedizin einander angenähert. Die Gegner von einst beginnen, sich zu akzeptieren. Grenzen verschwimmen, verschwinden. Eine eigene Fachrichtung hat sich herausgebildet, die Integralmedizin. Sie kombiniert konventionelle mit nachweislich wirksamen komplementären Therapien.

Die Berliner Charité unterhält am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie einen eigenen Projektbereich dafür. Derzeit befasst sich zum Beispiel eine Studie mit Effekten von Kneipp-Anwendungen beim Restless-Legs-Syndrom. Eine andere möchte herausfinden, ob Akupressur gegen diabetische Polyneuropathie hilft. Und wiederum eine andere untersucht, ob Naturheilkunde Bewohnern von Pflegeheimen das Leben leichter macht.

Am Immanuel-Krankenhaus in Wannsee gehen derweil Wissenschaftler der Berliner Hochschulambulanz für Naturheilkunde der Hypothese nach, dass Waldbaden stressbedingten Erkrankungen von Körper und Seele entgegenwirkt. Ernährungsexperten beschäftigen sich intensiv mit den Mechanismen des Heilfastens, mit Intervallfasten, das liegt im Trend. Dabei verarbeitet der Körper anfallenden Zellabfall. Für Rheuma sind positive Effekte nachgewiesen und sogar für hochkomplexe Erkrankungen wie Parkinson oder Demenz nicht ausgeschlossen.

Spermidin verstärkt ebendiesen Effekt, enthalten ist es unter anderem in Weizenkeimen und lange gereiftem Cheddar. Weitere Stoffe aus der Natur rücken in den Fokus der Forscher, wie Artemisinin aus dem einjährigen Beifuß oder NMN aus Edamer oder Avocado. Und dass schlechter Schlaf und wenig Bewegung auf Dauer krank machen, zählt zum evidenzbasierten Allgemeinwissen. „Vieles, was Studien inzwischen belegen, ist seit langem naturheilkundliches Erfahrungswissen“, sagt Brieschke, „zum Beispiel die Zusammenhänge von Mikrobiom und Immunsystem“.

Es klingelt an der Praxistür. Brieschke steht auf, schaut nach, kehrt zurück. „Offenbar ein Versehen.“ Er erwartet keine Patienten um diese Zeit. Nachher muss er zum St. Hedwig-Krankenhaus, nur ein paar Straßenecken entfernt. Gegen Mittag hat er dort einen Termin, in der Soteria, einer Abteilung für Menschen in schweren psychotischen Krisen. Brieschke ist Hobbyimker und leitet nun an der Klinik so etwas wie eine Imker-AG der Patienten.

Von 2013 bis 2022 war er in der Soteria als Körpertherapeut angestellt – parallel zu seiner Praxis, die er seit 25 Jahren betreibt. Er hat auf diese Weise den klinischen Alltag während der Pandemie kennengelernt, hat ihn auf der Station mitgestaltet. „Ich habe ein naturheilkundliches Konzept etabliert.“ Brieschke erklärt: „Ich arbeite polypragmatisch: Bildhaft gesprochen, klopfe ich an zehn Türen, und wenn ich überall zehn Prozent Besserung bekomme, ist alles gut. Aber wenn ich auch nur hinter einer Tür etwas bekomme, habe ich schon etwas erreicht.“

Brieschke hat auch einen internen Newsletter versendet. „Einmal habe ich vorgeschlagen, neben der obligatorischen Desinfektion der Hände auch den Rachen zu desinfizieren, indem man Hustenbonbons lutscht, denn die enthalten antiviral wirksame ätherische Öle“, erzählt der Heilpraktiker. Natürlich glaube er nicht daran, damit Infektionen verhindern zu können, die Viruslast im Rachen reduzieren lasse sich damit allerdings schon.

Die meisten Mitarbeiter im St. Hedwig-Krankenhaus fanden die Idee originell. „Ich glaube, manche haben sogar Hustenbonbons gelutscht, aber mein Chefarzt schrieb mir, einige meiner Ideen seien ihm zu abgefahren.“ Brieschke lacht, doch auch in dieser Episode steckt ein ernster Kern. Sie haben miteinander geredet, die angeblich unversöhnlichen medizinischen Disziplinen haben einander zugehört, Ideen überdacht, anstatt sie gleich zu verwerfen.

Es war eine Herausforderung, psychisch schwer erkrankten Patienten den Sinn von Beschränkungen zu erklären, von Vorschriften und Verboten, deren Nutzen und Risiken selbst jene nicht genau abschätzen konnten, die sie erlassen hatten. Die allgemeine Unsicherheit spürte Brieschke auch in seinen Praxen; eine zweite unterhält er in Prenzlauer Berg. Unter den Patienten sind viele Kinder. Eltern riefen nun an. „Was können wir machen?“, wollten sie wissen. „Was dürfen wir machen? Was müssen wir machen?“ Diese Fragen stellte sich der Heilpraktiker zu Beginn von Corona selbst, doch bald schon besann er sich auf bewährte Strategien.

„Kinder haben ja ständig virale Infekte: vom banalen Schnupfen über eine Bronchitis bis hin zu Durchfall.“ Manchmal schickt Brieschke Patienten zu einem Arzt, der dann prüft, ob ein Antibiotikum erforderlich ist oder eine andere Art der Therapie. Dann, wenn die Erkrankung so akut und ernst erscheint, dass seine Profession ihre natürlichen Grenzen erreicht. Oft jedoch könne er als Heilpraktiker helfen. „Und bei chronischen Fällen schickt auch schon mal ein Arzt einen kleinen Patienten zu mir.“

Naturheilkunde richte ihr Augenmerk darauf, Krankheiten zu vermeiden, sagt Brieschke: „In meiner Medizin verbessere ich die allgemeinen Bedingungen.“ Auch dieser Ansatz beginnt sich im Gesundheitswesen insgesamt durchzusetzen, Prävention rückt immer stärker in den Fokus, erzwungen auch durch die Umstände: Die klassische Reparaturmedizin verschlingt viel Geld und erfordert Personal, von dem in einer immer älter werdenden Gesellschaft schon jetzt nicht genug vorhanden ist. Dennoch ist das System auf Heilen zentriert, die Gesellschaft trägt die Konsequenzen.

Rund 40 Prozent der Menschen hierzulande leiden an einer chronischen Erkrankung. 30 Prozent leben damit 20 Jahre oder länger. Sie werden nie wieder vollständig gesund, müssen regelmäßig medizinisch versorgt werden. Knapp 114 Milliarden Euro pro Jahr gibt das Gesundheitswesen hierzulande dafür aus, ungefähr 26 Prozent des Gesamtbudgets von 432 Milliarden. Das Statistische Bundesamt erwartet unterdessen, dass bis 2049 im Vergleich zu 2019 der Bedarf an Beschäftigten in der Kranken- und Altenpflege um ein Drittel auf 2,15 Millionen steigt. Bis zu 690.000 Vollzeitstellen könnten dann nicht besetzt sein.

„Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Politik und in der Medizin, der dem Präventionsgedanken mehr Raum gibt“, sagt Brieschke. Einen Paradigmenwechsel wünscht er sich außerdem im Umgang miteinander, auch mit seiner Profession: „Die Medien haben genug über Heilpraktiker geschrieben und geredet“, sagt er. „Dass sie mit Heilpraktikern reden, wäre ein wichtiger Schritt.“

Er muss sich jetzt auf den Weg machen. In der Soteria im St. Hedwig-Krankenhaus warten die Patienten. Dass seine Bienen den psychisch kranken Menschen dort guttun, ist durch keine Studie belegt. Die brauchen sie auch nicht – sie merken das auch so.

QOSHE - Corona und Naturheilkunde: Wurde in der Pandemie eine Chance verpasst? - Christian Schwager
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Corona und Naturheilkunde: Wurde in der Pandemie eine Chance verpasst?

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30.04.2024

Vielleicht trifft eine Schlagzeile den Kern des Problems. Vielleicht sagt sie mehr aus als alle Reden, Bekenntnisse und Abhandlungen im Rückblick auf die Corona-Pandemie. Andreas Brieschke fällt sie in dem Moment ein, als es um Missverständnisse geht, Vorurteile, die Unfähigkeit, miteinander zu sprechen. Und um die Unart, stattdessen übereinander herzufallen. Die Schlagzeile stammt vom August 2020, sie lautete: „Heilpraktikerin ruft zum Sturm auf den Reichstag auf“.

Andreas Brieschke ist selbst Heilpraktiker und an diesem Vormittag im April in seiner Berliner Praxis. Draußen treibt ein kalter Nieselregen Menschen über die Linienstraße in Mitte vor sich her. Hier drin im Behandlungszimmer ist es angenehm hell, warm und ruhig. Im Zentrum des Raums steht ein langer Tisch. Er erinnert entfernt an einen OP-Tisch, nur dass ein gelbes Laken darüberliegt. Brieschke ist auch Körpertherapeut. Sein Schwerpunkt liegt in der Pflanzenheilkunde. Homöopathie? „Naturheilkunde“, sagt der 58-Jährige. „Ich verwende Naturheilverfahren und individuelle Heilpflanzenmischungen, gelegentlich gebe ich auch homöopathische Mittel.“

Doch das soll erst einmal nicht das Thema sein. Thema sind mögliche Lehren aus der Pandemie, das Verhältnis der alternativen, komplementären Medizin zur Schulmedizin und die Frage, ob die eine von der anderen profitieren kann. Wo erreicht die Naturheilkunde ihre Grenzen und muss Ärzten den Vortritt lassen? Wo leistet sie einen sinnvollen Beitrag?

Zum Beispiel in einer Pandemie, weil Heilpraktiker eben nicht per se fehlgeleitete Geister sind mit einem Drall ins Rechtsextreme, die „Corona-Diktatur“ brüllen und die Treppen des Reichstags hinaufrennen. Das ZDF betitelte damals einen Beitrag mit: „Die Siegheilpraktikerin“. Brieschke sagt: „Eine verwirrte Frau aus der Eifel, die zufällig in dem Beruf gearbeitet hat. Schmerzhaft, wenn so ein ganzer Berufsstand über einen Kamm geschoren wird.“

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Rund 47.000 Heilpraktiker gibt es in Deutschland. Pro Tag kümmern sie sich um insgesamt 128.000 Menschen. „Die überwiegende Mehrheit übt ihren Beruf verantwortungsvoll und erfolgreich aus, sonst würde sie ja niemand bezahlen“, sagt Brieschke. „Die meisten Heilpraktiker, die ich kenne, haben eine naturwissenschaftliche Ausbildung.“ Doch für Schlagzeilen sorgen die schwarzen Schafe. Wie etwa jener Mann aus Nordrhein-Westfalen, der 2016 Menschen mit einem Wirkstoff behandelte, der nicht als Arznei zugelassen ist, und sie damit in Gefahr brachte, drei seiner Klienten sogar umbrachte. Die Erkrankten, die sich ihm anvertraut hatten, fürchteten sich vor den Nebenwirkungen einer Chemotherapie.

Ist Parkinson zu stoppen? Dieser Berliner startet das Experiment am eigenen Leib

28.03.2024

Während der Pandemie waren es........

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