Deutschland debattiert über die Rückkehr zur Wehrpflicht. Die Bundeswehr klagt über Personalnot, dem aktuellen Wehrbericht zufolge fehlen den Streitkräften 21.000 Soldaten. Die Sollstärke beträgt insgesamt 203.000 Männer und Frauen. Auch Deutschlands Pflegebranche klagt über Personalnot. Bedarf und Angebot bei Fachkräften gehen immer weiter auseinander. Schon jetzt ist etwa jede dritte Stelle nicht besetzt. Einer Prognose der Bertelsmann-Stiftung zufolge könnten am Ende dieses Jahrzehnts fast eine halbe Million Vollzeitstellen in der Pflege fehlen, wenn sich der momentane Trend ungebrochen fortsetzt.

Würde eine allgemeine Wehrpflicht als Nebeneffekt auch bei der Versorgung kranker und alter Menschen für Entlastung sorgen? Zumindest dann, wenn sie nach dem Modell praktiziert würde, das bis 2011 in der Bundesrepublik galt: mit einem flankierenden Zivildienst? „Aushelfende in der Pflege für einige Monate können keine ausgebildeten Fachkräfte ersetzen“, stellt Marc Schreiner zunächst einmal klar. Der Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG) sagt: „Das Problem des Personalmangels muss grundsätzlich angegangen werden.“

Dennoch steht für Schreiner fest, dass Zivildienstleistende qualifiziertes Personal sinnvoll unterstützen können, als „ein Baustein im Qualifikations-Mix“, wie er es formuliert. Sie könnten im Service arbeiten, beim Patiententransport helfen, Essen verteilen, Betten machen. Für denkbar hält die BKG sogar Tätigkeiten direkt am Patienten, etwa beim Mobilisieren oder in der Eins-zu-eins-Betreuung von Menschen mit eingeschränkter Wahrnehmung. Einsätze als sogenannte Sitzwache würden kein Risiko für die Betroffenen bedeuten. In der Langzeitpflege würden sich Zivildienstleistende verdient machen, indem sie sich zum Beispiel mit Bewohnern von Pflegeeinrichtungen beschäftigen.

Gerade in der Prägephase junger Menschen kann diese praxisnahe Erfahrung sehr wertvoll sein.

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All diese Möglichkeiten eröffnete der Zivildienst in der Vergangenheit. Die alte Bundesrepublik hatte ihn 1961 eingeführt, in den 50 Jahren bis zu seinem Ende entschieden sich mehr als 2,7 Millionen Wehrdienstverweigerer für diese Alternative. Auch in der Zeit nach der Wiedervereinigung blieb das Interesse am Zivildienst gleichbleibend hoch, zwischen 1993 und 2003 arbeiteten pro Jahr mehr als 100.000 junge Menschen vorwiegend im sozialen Bereich. Beliebt waren Krankenhäuser und Altenheime.

Seit Juli 2011 übernimmt der Bundesfreiwilligendienst die Funktion des Zivildienstes. Bundesweit haben sich 2023 etwas mehr als 36.000 Personen dazu verpflichtet, mehr als die Hälfte davon sind Frauen. Eine Altersgrenze besteht nicht. Die gibt es dagegen beim freiwilligen sozialen Jahr, kurz FSJ – hier ist mit 27 Jahren Schluss. Das Prinzip des FSJ existiert seit mehr als 50 Jahren. Seit 1993 können junge Menschen zudem ein freiwilliges ökologisches Jahr absolvieren.

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Der Zivildienst konzentrierte sich vor allem auf die stationäre medizinische Versorgung. Marc Schreiner sagt: „Die Krankenhäuser waren einer der maßgeblichen Träger des Zivildienstes und boten jungen Männern insbesondere auch im Hinblick auf deren spätere berufliche Orientierung attraktive Zivildienstplätze an.“ Mehr als 80 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Pflege sind hierzulande Frauen.

Als Alternative zur Wehrpflicht würde der Zivildienst verstärkt wieder Männer mit dem Beruf in Berührung bringen. Schreiner geht davon aus, dass die gewonnenen Eindrücke mögliche Vorurteile abbauen, einen Übergang in den Beruf ebnen, bisher ungenutzte Potenziale heben. „Wie in anderen Ausbildungsberufen gibt es auch in der Pflegeausbildung Auszubildende, die ihre Ausbildung abbrechen“, sagt Schreiner. Dafür sei oft ein falsches Bild von der Tätigkeit als Pflegekraft vor Beginn der Ausbildung verantwortlich.

„Einen Zivildienst oder eine Aushilfe sehen wir als eine gute Möglichkeit an, auf die Aufgaben in der Pflege vorbereitet zu sein und die persönliche Eignung einzuschätzen“, sagt Schreiner. „Gerade in der Prägephase junger Menschen kann diese praxisnahe Erfahrung sehr wertvoll sein.“ Das zeige schon jetzt das freiwillige soziale Jahr, das in den Krankenhäusern absolviert werden könne.

Isabell Halletz ist Geschäftsführerin beim Arbeitgeberverband Pflege (AGVP), auch sie weiß um die positiven Effekte, die der Zivildienst gehabt hat. „Pflegeeinrichtungen haben berichtet, dass durch den Zivildienst mehr Männer für die Ausbildung zum Altenpfleger gewonnen werden konnten, denn durch den Zivildienst haben die jungen Männer diesen Bereich überhaupt erst kennengelernt, für den sie sich unter anderen Umständen vermutlich nicht entschieden hätten.“ In manchen Bundesländern wurde der Übergang in den Beruf dadurch erleichtert, dass sich die Zeit des Zivildienstes auf die spätere Ausbildung in der Altenpflege anrechnen ließ.

Halletz erwartet, dass Zivildienstleistende in Zukunft erneut eine Rolle bei der Betreuung alter, gebrechlicher Menschen spielen können. „Das hat insbesondere die Pandemie wirksam gezeigt“, sagt sie. Einige Bundesländer mobilisierten während Corona eine sogenannte Pflegereserve. Auch Berlin gehörte dazu. Die Reserve war 2020 auf Betreiben der Bertelsmann-Stiftung aufgebaut worden: Ehemalige Pflegekräfte und medizinisch ausgebildetes Personal, das inzwischen in andere Berufe abgewandert war, wurde für eine Rückkehr in Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäuser angeworben, die sich ihrerseits vernetzten. „Leider wurde die Pflegereserve mittlerweile wieder eingestellt.“

Zivildienstleistende können ausgebildete Fachkräfte nicht ersetzen, das zu betonen ist auch Isabell Halletz wichtig. „Vielmehr geht es darum, das Pflegefachpersonal in seinen täglichen Aufgaben zu unterstützen“, sagt sie. Einsatzmöglichkeiten gebe es in der ambulanten und stationären Altenpflege, ebenso in der Tages- und Kurzzeitpflege. Zivildienstleistende unterstützen bei der Körperpflege, helfen Klienten beim Anziehen und Essen, begleiten sie auf Spaziergängen und Ausflügen, bei Arztbesuchen, kaufen ein, erledigen den Haushalt. „Unterstützung bei Therapieangeboten und im Freizeitprogramm der pflegebedürftigen Menschen gehören zu Tätigkeiten, die übernommen werden können“, sagt Halletz.

Um dem Personalmangel wirkungsvoll zu begegnen, bedarf es weit mehr als einer Rückkehr zum Zivildienst. Der Beruf der Pflegefachkraft muss attraktiver werden. Das sagt Isabelle Halletz, das betont auch Marc Schreiner noch einmal. Ob eine zivile Dienstpflicht nötig sein werde, sei nicht belegt, meint Halletz, allerdings: „In Zukunft werden wir jede helfende Hand in der pflegerischen Versorgung und Betreuung benötigen, um überhaupt professionelle Pflege anbieten zu können.“

QOSHE - Die vergessene Seite der Wehrpflicht: Kann der Zivildienst das Gesundheitssystem retten? - Christian Schwager
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Die vergessene Seite der Wehrpflicht: Kann der Zivildienst das Gesundheitssystem retten?

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17.03.2024

Deutschland debattiert über die Rückkehr zur Wehrpflicht. Die Bundeswehr klagt über Personalnot, dem aktuellen Wehrbericht zufolge fehlen den Streitkräften 21.000 Soldaten. Die Sollstärke beträgt insgesamt 203.000 Männer und Frauen. Auch Deutschlands Pflegebranche klagt über Personalnot. Bedarf und Angebot bei Fachkräften gehen immer weiter auseinander. Schon jetzt ist etwa jede dritte Stelle nicht besetzt. Einer Prognose der Bertelsmann-Stiftung zufolge könnten am Ende dieses Jahrzehnts fast eine halbe Million Vollzeitstellen in der Pflege fehlen, wenn sich der momentane Trend ungebrochen fortsetzt.

Würde eine allgemeine Wehrpflicht als Nebeneffekt auch bei der Versorgung kranker und alter Menschen für Entlastung sorgen? Zumindest dann, wenn sie nach dem Modell praktiziert würde, das bis 2011 in der Bundesrepublik galt: mit einem flankierenden Zivildienst? „Aushelfende in der Pflege für einige Monate können keine ausgebildeten Fachkräfte ersetzen“, stellt Marc Schreiner zunächst einmal klar. Der Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG) sagt: „Das Problem des Personalmangels muss grundsätzlich angegangen werden.“

Dennoch steht für Schreiner fest, dass Zivildienstleistende qualifiziertes Personal sinnvoll unterstützen können, als „ein Baustein im Qualifikations-Mix“, wie er es formuliert. Sie könnten im Service arbeiten, beim Patiententransport helfen, Essen verteilen, Betten machen. Für denkbar hält die BKG sogar Tätigkeiten direkt am Patienten, etwa beim Mobilisieren oder in der Eins-zu-eins-Betreuung von Menschen mit eingeschränkter Wahrnehmung. Einsätze als sogenannte Sitzwache würden kein Risiko für die Betroffenen bedeuten. In der Langzeitpflege würden sich........

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