Es hat sie umgehauen wie ein Keulenschlag. Renate Hansen fällt dieser Vergleich ein, als sie von der Diagnose berichtet, über den Moment spricht, als jenes niederschmetternde Wort fiel: Tuberkulose.

Das war Mitte April. Die Rentnerin war gerade in der Lungenklinik in Berlin-Buch aufgenommen worden. Sie litt unter Atemnot, hatte bereits einen diagnostischen Marathon hinter sich, denn im Raum stand lange ein anderes schlimmes Wort: Krebs.

Inzwischen wird sie seit mehr als zwei Wochen in Buch behandelt. Wenn es gut läuft, kann sie bald wieder nach Hause. Die Medikamente schlagen an, sie bekam eine Kombination aus vier Antibiotika verordnet. Zwei kann sie im Juni absetzen, die anderen beiden muss sie sechs Monate lang nehmen. Die Patientin ist über den Berg, endgültig geheilt ist sie noch nicht.

„Das muss ich jetzt durchziehen“, sagt Renate Hansen, die ihren richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen will, weil es nicht um sie persönlich gehen soll, sondern um die Erkrankung, Tuberkulose, für die ihre Geschichte steht. Die Zahl der Fälle steigt hierzulande; allein in Berlin waren es seit Januar 89, im Vorjahr insgesamt 347. Bundesweit haben sich die Neuerkrankungen zwischen 2021 und 2022 verdoppelt, Tendenz weiter steigend. Das geht aus dem Melderegister des Robert-Koch-Instituts (RKI) hervor.

Global betrachtet ist Tuberkulose die tödlichste Infektionskrankheit überhaupt. Jährlich sterben daran 1,3 Millionen Menschen, ungefähr so viele wie bei Verkehrsunfällen. In Westeuropa gilt die Tuberkulose zwar als kontrollierbar. In Deutschland ist sie seit mehr als zwei Jahrzehnten auf dem Rückzug, verschwunden ist sie jedoch nicht. Es kommt zu Wellenbewegungen, zu Spitzen, hin und wieder zu einem Comeback. Etwa zwischen 2014 und 2016, als der Krieg in Syrien mit Geflüchteten den Erreger nach Europa brachte. Derzeit haben der Angriff Russlands auf die Ukraine und die fortdauernden Kampfhandlungen einen ähnlichen Effekt, wenngleich der Anstieg geringer ausfällt als noch vor zehn Jahren.

RKI: Immer mehr Fälle von Tuberkulose in Deutschland

14.03.2024

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gestern

Renate Hansen bekommt diese Entwicklung jetzt hautnah mit, in der Klinik in Buch. Neulich hat ihr eine Krankenschwester erzählt, dass es eine Station eigens für Patienten mit Tuberkulose gebe, wo alle Zimmer komplett belegt seien. Renate Hansen ist deshalb in einer anderen Abteilung untergebracht, isoliert. Mittlerweile darf sie allerdings zu Spaziergängen an die frische Luft. Und zum Telefonieren. Wie in diesem Moment, als sie ihre Geschichte erzählt. Manchmal ist ihr Atem zu hören. „Weil ich mich bewege“, sagt sie. „Atemnot habe ich nicht mehr, zum Glück.“

Mit dem Ukraine-Krieg hängt es wahrscheinlich nicht zusammen, dass sie erkrankt ist. Das war eine der ersten Fragen, die ihr gestellt wurden, als sie in der Lungenklinik ankam. „Hatten Sie Kontakt zu Geflüchteten?“ Hatte sie nicht. Dennoch ist ihr Fall auf seine Weise typisch. Ein Phänomen wird erkennbar, das Forscher des RKI und anderer wissenschaftlicher Einrichtungen zuletzt während der Corona-Pandemie beobachtet hatten: Ist das menschliche Immunsystem intensiv mit einem anderen Erreger beschäftigt, mit Sars-Cov-2 etwa, hat die Tuberkulose leichteres Spiel, kann mitunter sogar einen schweren Verlauf nehmen.

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist rund ein Viertel der Bevölkerung auf der Erde mit Tuberkulose infiziert, doch lediglich bei zehn Prozent bricht sie aus, manchmal erst nach Jahrzehnten. Bei Renate Hansen könnte eine schwere Grippe die körpereigene Abwehr geschwächt haben. „Am 10. März habe ich viele Symptome einer Influenza entwickelt“, erzählt sie. Das Datum wird sie nicht vergessen, weil an diesem Tag alles begann – mit Abgeschlagenheit, Fieber, Schüttelfrost. „Ich habe zwei Wochen lang im Bett gelegen und alle Hausmittel gegen Grippe angewandt, die ich kenne.“

Es ging bergauf – und kurz vor Ostern bergab. Renate Hansen bekam immer schwerer Luft, litt unter beängstigender Atemnot, suchte ihre Hausärztin auf. Die untersuchte per Ultraschall die Lunge, erkannte Flüssigkeit, die sich in dem Organ eingelagert hatte – sie rief den Notarzt. „Ich kam in ein Krankenhaus.“ Welches, möchte Renate Hansen nicht sagen, denn die folgenden zehn Tage empfand sie nicht gerade als Werbung für diese Klinik. „Die Ärzte waren der Meinung, ich müsse Krebs haben. Ich wurde auf alle möglichen Formen von Krebs untersucht.“ CT, Ultraschall, Mammografie, zweimal wurde die Lunge punktiert. „Eine unglaubliche nervliche Belastung. Nach diesen zehn Tagen war ich völlig am Ende.“

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Anzeichen von Krebs fanden sich nicht, kein Tumor, keine Metastasen. „Man sagte mir, ich solle bitte einen Termin in der Lungenklinik Buch machen.“ Renate Hansen packte die Aufnahmen von ihrer Lunge ein, und nachdem sie wenig später ein Arzt angeschaut hatte, eröffnete er der Patientin, es sei denkbar, dass sie Tuberkulose habe. Da fiel das Wort zum ersten Mal.

„Diagnoseverzögerung“ nennt Ralf Otto-Knapp das, wenn sich die Suche nach dem Ursprung der Krankheit in die Länge zieht. Er kennt solche Fälle, sie kommen immer wieder vor. Otto-Knapp ist Pneumologe und Infektiologe und arbeitet beim Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose, kurz DKZ. Ein sperriger Name für eine Nicht-Regierungsorganisation, doch als sie gegründet wurde, vor rund 130 Jahren, nahm man sich mehr Zeit für langwierige Titel.

Damals starb in Deutschland etwa jeder vierte arbeitende Mann an dem Erreger. In der jüngeren Vergangenheit kamen rund 100 Betroffene per annum ums Leben. „Insgesamt haben wir heute über 4000 Tuberkulosefälle jährlich“, sagt Otto-Knapp. 4481 waren es laut RKI 2023. Mit mehr als 50.000 Neuerkrankungen pro Jahr ist das Lungenkarzinom derweil die zweithäufigste Krebsart. „Deutlich häufiger handelt es sich also um Lungenkrebs, wenn auf dem Röntgenbild ohne akute Lungenentzündung Schatten zu erkennen sind.“ Seltener kommt der Verdacht auf, es könnte sich um Tuberkulose handeln.

Es gibt ein geflügeltes Wort. Krieg und Armut sind die Eltern der Tuberkulose.

Wie oft sich in Deutschland ein solcher Befund verzögert, ist bislang nicht untersucht worden, doch eine Studie für die Schweiz ergab, dass das Gesundheitssystem eine Tuberkulose durchschnittlich mit zwei Wochen Verzögerung diagnostiziert. Bis die Betroffenen wiederum den Weg ins Gesundheitssystem finden, vergehen sogar fünf Wochen im Mittel. „Man muss auf die Risikofaktoren achten“, sagt Ralf Otto-Knapp. „Wenn es sich um ältere Menschen handelt, die vielleicht sogar rauchen, dann sollte man eher in Richtung Lungenkarzinom denken.“ Kommen die Betroffenen aus einer Region, in der Tuberkulose häufiger auftritt, ist dies eine heiße Spur, der die Diagnose folgen müsste. Etwa bei Geflüchteten aus der Ukraine. Während die Inzidenz in Deutschland laut RKI 4,9 auf 100.000 Einwohner beträgt, liegt sie dort bei 72.

„Es gibt ein geflügeltes Wort“, sagt Otto-Knapp: „Krieg und Armut sind die Eltern der Tuberkulose.“ In Krisen rückt die Bevölkerung zusammen, im wahrsten Sinne des Wortes. Infektionen sind leichter möglich, Infektionsketten verlängern sich. Mangelnde Hygiene kann die Situation zusätzlich verschärfen. Kommt dann noch eine weitere gesundheitliche Ausnahmesituation hinzu, breitet sich die Tuberkulose aus. „Besonders beeindruckend wurde dieser Effekt Ende der Achtzigerjahre erkennbar, als die HIV-Epidemie aufkam“, sagt Otto-Knapp. „Man hat einen deutlichen Anstieg der Sterblichkeit gesehen, vor allem in Afrika, der Subsahara.“

Tuberkulose zählt nach wie vor bei HIV-Infizierten zu den häufigsten Todesursachen. Und nach wie vor ist die Infektionskrankheit vor allem in der südlichen Hemisphäre verbreitet: in Teilen von Afrika, in Brasilien, aber auch in einer Zone von Russland über die Mongolei und China bis in Regionen des Pazifiks. In Deutschland ist das Risiko, sich zu infizieren, vergleichsweise gering. Die Ständige Impfkommission beim RKI empfiehlt daher seit 1998 keine Immunisierung mit dem sogenannten BCG-Vakzin mehr. Häufig treten nämlich Komplikationen auf. „Es kann zu starken Nebenwirkungen kommen“, sagt Otto-Knapp. Dieses Manko wiegt ein möglicher Nutzen nicht auf. Wissenschaftliche Studien konnten eine sichere Wirkung bei Erwachsenen nicht nachweisen.

Das DKZ setzt auf eine andere Strategie. „Wir müssen versuchen, die Rahmenbedingungen zu verbessern“, sagt Otto-Knapp. Es gelte, Nebenerkrankungen einzudämmen, die einen Ausbruch der Tuberkulose begünstigen, Diabetes zum Beispiel. „Außerdem muss man sich um soziale Faktoren kümmern“, erklärt der Experte. Armut – auch in Deutschland ist sie ein Elternteil der Tuberkulose. „Vor allem muss man aufklären.“ Das ist eine der wichtigsten Aufgaben des DKZ.

Kultursensitiv lautet in der Prävention der Fachbegriff: Die Menschen sollen dort abgeholt werden, wo sie sind. In einer Sprache, die sie verstehen. Wie wichtig das ist, deuten Daten des RKI an, die das Patientenaufkommen auch nach Staatsangehörigkeit aufschlüsseln. Demnach beträgt die Inzidenz bei Personen mit deutschem Pass 1,5 auf 100.000, bei Erkrankten aus dem Ausland dagegen 25,1.

Aufzuklären gilt es nicht nur über die Erkrankung, sondern auch ihre Behandlung. Über die Bedeutung der Medikamente, der vier Antibiotika, die über einen langen Zeitraum eingenommen werden müssen, damit sie wirken und heilen. „Leider“, sagt Otto-Knapp, „brechen relativ viele Patienten diese Kombinationstherapie ab.“ Sie laufen dadurch Gefahr, einen Rückfall zu erleiden und andere anzustecken.

Renate Hansen hat sich unlängst mit einer Bekannten in der Grünanlage der Lungenklinik getroffen. Sie saßen im Halbschatten. „Am Abend bekam ich Ausschlag, obwohl ich ein dunkler Hauttyp bin und sonst nie Probleme mit der Sonne habe.“ Eine Nebenwirkung der Antibiotika. Inzwischen hat die Berlinerin viel über Tuberkulose gelernt. Sie hat sich mit den Medizinern in Buch darüber unterhalten. Auch über die Schatten auf der Lunge, die zum Glück nicht größer geworden sind. „Die Ärzte sagen, die Einlagerungen könne man nur über die Tabletten in den Griff kriegen.“ Also schluckt sie jeden Morgen die vier Pillen. „Riesendinger, aber ich habe keine Alternative.“

Immerhin, sie ist nicht mehr ansteckend, das haben Tests ergeben. Ein halbes Jahr lang wird die Tuberkulose sie aber noch begleiten. „Und dann“, sagt Renate Hansen, „sehen wir weiter.“

QOSHE - Tuberkulose in Berlin: Comeback der weltweit tödlichsten Infektionskrankheit - Christian Schwager
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Tuberkulose in Berlin: Comeback der weltweit tödlichsten Infektionskrankheit

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04.05.2024

Es hat sie umgehauen wie ein Keulenschlag. Renate Hansen fällt dieser Vergleich ein, als sie von der Diagnose berichtet, über den Moment spricht, als jenes niederschmetternde Wort fiel: Tuberkulose.

Das war Mitte April. Die Rentnerin war gerade in der Lungenklinik in Berlin-Buch aufgenommen worden. Sie litt unter Atemnot, hatte bereits einen diagnostischen Marathon hinter sich, denn im Raum stand lange ein anderes schlimmes Wort: Krebs.

Inzwischen wird sie seit mehr als zwei Wochen in Buch behandelt. Wenn es gut läuft, kann sie bald wieder nach Hause. Die Medikamente schlagen an, sie bekam eine Kombination aus vier Antibiotika verordnet. Zwei kann sie im Juni absetzen, die anderen beiden muss sie sechs Monate lang nehmen. Die Patientin ist über den Berg, endgültig geheilt ist sie noch nicht.

„Das muss ich jetzt durchziehen“, sagt Renate Hansen, die ihren richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen will, weil es nicht um sie persönlich gehen soll, sondern um die Erkrankung, Tuberkulose, für die ihre Geschichte steht. Die Zahl der Fälle steigt hierzulande; allein in Berlin waren es seit Januar 89, im Vorjahr insgesamt 347. Bundesweit haben sich die Neuerkrankungen zwischen 2021 und 2022 verdoppelt, Tendenz weiter steigend. Das geht aus dem Melderegister des Robert-Koch-Instituts (RKI) hervor.

Global betrachtet ist Tuberkulose die tödlichste Infektionskrankheit überhaupt. Jährlich sterben daran 1,3 Millionen Menschen, ungefähr so viele wie bei Verkehrsunfällen. In Westeuropa gilt die Tuberkulose zwar als kontrollierbar. In Deutschland ist sie seit mehr als zwei Jahrzehnten auf dem Rückzug, verschwunden ist sie jedoch nicht. Es kommt zu Wellenbewegungen, zu Spitzen, hin und wieder zu einem Comeback. Etwa zwischen 2014 und 2016, als der Krieg in Syrien mit Geflüchteten den Erreger nach Europa brachte. Derzeit haben der Angriff Russlands auf die Ukraine und die fortdauernden Kampfhandlungen einen ähnlichen Effekt, wenngleich der Anstieg geringer ausfällt als noch vor zehn Jahren.

RKI: Immer mehr Fälle von Tuberkulose in Deutschland

14.03.2024

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Renate Hansen bekommt diese Entwicklung jetzt hautnah mit, in der Klinik in Buch. Neulich hat ihr eine Krankenschwester erzählt, dass es eine Station eigens für Patienten mit Tuberkulose gebe, wo alle Zimmer komplett belegt seien. Renate Hansen ist deshalb in einer anderen Abteilung untergebracht, isoliert. Mittlerweile darf sie allerdings zu Spaziergängen an die frische Luft. Und zum Telefonieren. Wie in diesem Moment, als sie ihre Geschichte erzählt. Manchmal ist ihr Atem zu hören.........

© Berliner Zeitung


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