Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – Brachydaktylie Typ A3. Und das kam so: Ich war im ICE von Berlin nach Freiburg unterwegs; pünktliche Abfahrt, vor allem pünktliche Ankunft, wie sich später herausstellen sollte. Das tut an dieser Stelle zwar nichts zur Sache, sollte aber trotzdem mal lobend erwähnt werden.

Siebeneinhalb Stunden Entspannung pur bei zurückgestellter Rückenlehne und angewinkelten Beinen. Ich bemühte mich gerade, die Handflächen unverkrampft auf den Armlehnen zu platzieren, als mir mein kleiner Finger ins Auge stach. Im übertragenen Sinn, nicht in selbstverletzender Absicht. Er machte seinem Namen alle Ehre, denn er schien mir geradezu unnormal klein zu sein.

Ich stellte die Rückenlehne hoch, griff zum Smartphone und googelte. Kostenloses Wlan, danke, liebe Bahn. Die Suche führte mich sogleich auf eine Internetseite, die sich mit der Fragestellung befasste, was so ein Winzling an der Hand über den charakterlichen Zustand seines Besitzers aussagt. Überwiegend Gutes, wie sich herausstellte. Ausgeglichen und harmoniebedürftig in meiner Wesensart, sei ich extrem anpassungsfähig, teilte mir das angeklickte Fachblatt für zwischenmenschliche Angelegenheiten mit.

Andere Zeitschriftenportale mit ebenfalls aus der Mode gekommenen Frauennamen im Titel bestätigten den Befund für die mir zugeschriebene Kategorie „Kleiner Finger eher kurz“. Nicht zu verwechseln mit „Kleiner Finger kurz“. Ersterer reicht bis knapp über die oberste Linie des benachbarten Ringfingers, belehrte mich die Britta, Brigitte, Berta oder wie auch immer. Letzterer schließt mit ebenjener Linie ab.

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Diese anatomische Besonderheit wiederum bedeutet für die Betroffenen, dass sie allesamt verträumt und zurückhaltend, aber trotzdem zielstrebig sind. So lautete die übereinstimmende Expertise von Jolie, Petra, Tina und Konsorten. Mit einem langen kleinen Finger wiederum würden mich die Mitmenschen wegen meiner enormen Ausstrahlung bewundern. Ich stünde gern im Mittelpunkt und hätte viele Freunde. Tja, man kann nicht alles haben.

Faszinierend jedenfalls, wie sich da Körperbau und Psychologie die Klinke in die Hand gaben, populärwissenschaftlich formuliert. Dass bestimmte Regionen der Fußsohle mit Leber oder Dickdarm nervlich und mitunter nervend in direktem Austausch stehen, hatte ich schon gehört. Doch diese Finger-Connection war eine Überraschung, der ich auf den Grund gehen musste. Ich stieß auf ein Portal, das sich mit Nierenheilkunde befasste. Dass dort etwas über Extremitäten stand, gehört zu den Mysterien einer Selbstdiagnose.

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Die gipfelte in ebenjener Brachydaktylie Typ A3, in Fachkreisen auch als Brachymesophalangie V bekannt, Trivialname: Kurzfingrigkeit. Es handelt sich um eine autosomal dominante Erscheinung. Das klingt bedeutsam und bezeichnet den Umstand, dass ein körperliches Merkmal mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit von einer Generation an die nächste weitergereicht wird. Das muss ich bei Gelegenheit anbringen. „Na, mein Lieber, wenn deine Tränensäcke mal nicht autosomal dominant sind.“

Jetzt hätte ich zum entscheidenden Punkt kommen müssen. Doch ob es eine Therapie gegen die Brachydaktylie Typ A3 gab, erschien mir inzwischen völlig gleichgültig. Ich war nämlich auf einen Tipp für Eher-kurz-klein-Fingrige gestoßen. Er lautete: „Sich ab und an fallen zu lassen, wirkt nachmals menschlicher.“ Gut, dass ich schon seit ein paar Stunden saß. Danke, liebe Bahn.

QOSHE - Was mir die Deutsche Bahn und ein kleiner Finger über meinen Charakter verrieten - Christian Schwager
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Was mir die Deutsche Bahn und ein kleiner Finger über meinen Charakter verrieten

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10.04.2024

Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – Brachydaktylie Typ A3. Und das kam so: Ich war im ICE von Berlin nach Freiburg unterwegs; pünktliche Abfahrt, vor allem pünktliche Ankunft, wie sich später herausstellen sollte. Das tut an dieser Stelle zwar nichts zur Sache, sollte aber trotzdem mal lobend erwähnt werden.

Siebeneinhalb Stunden Entspannung pur bei zurückgestellter Rückenlehne und angewinkelten Beinen. Ich bemühte mich gerade, die Handflächen unverkrampft auf den Armlehnen zu platzieren, als mir mein kleiner Finger ins Auge stach. Im übertragenen Sinn, nicht in selbstverletzender Absicht. Er machte seinem Namen alle Ehre, denn er schien mir geradezu unnormal klein zu sein.

Ich stellte die Rückenlehne hoch, griff zum Smartphone und googelte. Kostenloses Wlan, danke, liebe Bahn. Die Suche führte mich sogleich auf eine Internetseite, die sich mit der........

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