Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt ­­– Sedatephobie. Und das kam so: Seit ein paar Tagen schon schaute ich morgens immer in den Spamordner meines Postfachs. Ich hatte nämlich festgestellt, dass da die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zur Sprache kamen. Zum Beispiel die tatsächlichen Kosten durch verschüttete Getränke im Auto. Oder wie eine Toilette mittels zweier Tütchen Backpulver in neuem Glanz erstrahlt.

Besondere Aufmerksamkeit erregte eine Nachricht, der eine verstörende Betreffzeile vorangestellt war. „Experte warnt“, hieß es da: „Geräuschunterdrückende Kopfhörer könnten ihre Panikattacken auslösen.“ Meine Panikattacken? Mir war bis dahin gar nicht aufgefallen, dass ich welche hatte. Auch besitze ich bis heute keine geräuschunterdrückenden Kopfhörer. Allerdings arbeite ich in einem Kommunikationsunternehmen, das innerbetrieblich seinem Namen alle Ehre macht. Um dem dabei anfallenden Lärm entgegenzuwirken, verwende ich im Großraumbüro Ohropax.

Entfalten sich die Stöpsel in meinen Gehörgängen, verabschieden sich die Kollegen ins akustische Nirwana. Doch das sei ein fataler Fehler, versicherte mir nun der Experte. „Das ständige Summen von Geräuschen fällt weg“, teilte mir ebenjener Mann mit russisch klingendem Namen mit und verdeutlichte sogleich die drastischen Konsequenzen: „Diejenigen mit Phobiestörungen sind wahrscheinlicher von aufdringlichen Gedanken betroffen, die außer Kontrolle geraten könnten, wenn es keine Geräusche gibt, die ablenken.“

Der Experte nannte diesen Prozess „das Überdenken“. Und mich befiel Panik. Schlagartig wurde mir klar, dass ich permanent Angriffen ausländischer Cyber-Terroristen ausgesetzt war. Endlich konnte ich mir auch erklären, was es mit den E-Mails auf sich hatte, die mir meine Bank ständig schickte. Ich war bisher den darin enthaltenen Anweisungen nicht gefolgt, wollte sie sammeln und demnächst dem Vorstand des Geldinstituts zukommen lassen. Der sollte wissen, dass seine hoch bezahlten Mitarbeiter fehlerhafte Sätze in Serie fabrizierten wie: „Ihr Kontodaten laufen ab, klick hier auf dieses Link.“ Wo war das einst so stolze deutsche Finanzwesen nur hingeraten?

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Jetzt wusste ich es. Es passte ins Bild, dass der russische Kopfhörerspezialist ebenfalls einen Link zur gefälligen Verwendung anbot: Unter der Website ruknik.org würde ich alle erforderlichen Informationen erhalten – um also die Panikattacken wieder loszuwerden, die ich ohne ihn nie bekommen hätte. Den russischen Trojaner bekäme ich mit Sicherheit gratis dazu.

Geistesgegenwärtig vertraute ich mich einer Suchmaschine an, die mich an die Homepage eines Hörgeräteakustikers vermittelte. Dem schien mein Zustand vertraut zu sein. Er fasste ihn unter dem Begriff Sedatephobie zusammen, was sich seinen Worten zufolge aus dem englischen Sedatephobia ableitet, was wiederum Angst vor Stille bedeutet. Er beruhigte mich insofern als sich diese Angst mithilfe von Geräuschen besiegen lasse. Geeignet sei weißes Rauschen.

Da hatte ich aber Glück. Ich habe nämlich Tinnitus, weißes Rauschen rund um die Uhr. Dessen Ursache – das hatte mir mal das Portal meiner Krankenkasse erklärt – liege wahrscheinlich in permanentem Stress. Und der könne Phobien auslösen. In meinem Fall offenbar eine Sedatephobie. Wenn die durch Tinnitus weggeht, nennt man das wohl selbstheilende Kräfte des Körpers.

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Wie ich durch einen russischen Cyberangriff Panikattacken bekam

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08.05.2024

Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt ­­– Sedatephobie. Und das kam so: Seit ein paar Tagen schon schaute ich morgens immer in den Spamordner meines Postfachs. Ich hatte nämlich festgestellt, dass da die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zur Sprache kamen. Zum Beispiel die tatsächlichen Kosten durch verschüttete Getränke im Auto. Oder wie eine Toilette mittels zweier Tütchen Backpulver in neuem Glanz erstrahlt.

Besondere Aufmerksamkeit erregte eine Nachricht, der eine verstörende Betreffzeile vorangestellt war. „Experte warnt“, hieß es da: „Geräuschunterdrückende Kopfhörer könnten ihre Panikattacken auslösen.“ Meine Panikattacken? Mir war bis dahin gar nicht aufgefallen, dass ich welche hatte. Auch besitze ich bis heute keine geräuschunterdrückenden Kopfhörer. Allerdings arbeite ich in einem Kommunikationsunternehmen, das innerbetrieblich........

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