Der Satz „Als ich klein war, lebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt.“, mit dem Constanze Neumann ihr Buch „Das Jahr ohne Sommer“ beginnt, bringt etwas zum Klingen. Bei ihren Leserinnen und Lesern, die in der DDR aufwuchsen, ist es eine Erinnerung; sie kennen die biografische Erfahrung des Bruchs, der Veränderung.

Bei der in Leipzig geborenen Autorin aber hat der Satz eine viel schwerwiegendere Bedeutung. Als sie drei Jahre alt war, planten ihre Eltern, mit einer Fluchthilfeorganisation in den Westen zu gelangen. Sie wurden inhaftiert und Monate später von der Bundesrepublik freigekauft. Das kleine Mädchen kam zunächst ins Heim, dann zu den Großeltern. Es dauerte ein reichliches Jahr, bis das Kind aus dem einen Land in das Land der Eltern übersiedeln durfte.

„Das Jahr ohne Sommer“ ist ein Roman, der sehr stark berührt, weil er die Auswirkungen der deutschen Teilung auf ein Kind und auf eine konkrete Familie zeigt. Constanze Neumann leitete bis Ende Januar den Aufbau-Verlag in Berlin, sie veröffentlichte bereits mehrere Bücher, aber noch nie schrieb sie so persönlich. Das hat mit einem weiteren gravierenden Ereignis in ihrem Leben zu tun. Auch darüber sprachen wir bei einem Treffen vor der Leipziger Buchmesse im Ullstein-Verlag, wo das Buch dieser Tage erschienen ist.

Frau Neumann, Sie haben so vielen Büchern auf die Welt geholfen, wie geht es Ihnen mit diesem eigenen, so persönlichen?

Ich freue mich, dass es da ist. Eine Distanz habe ich noch nicht dazu, anders als bei dem letzten ist es meine persönliche Geschichte. Das Erzählen ist eine Art der Verarbeitung und des Abschlusses.

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17.03.2024

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„Das Jahr ohne Sommer“ zeigt, wie belastend Sie die Ost-West-Herkunft erlebten. Ist es leichter, jetzt darüber zu sprechen, weil es einmal geschrieben ist?

Es war immer so, dass ich darüber offen gesprochen habe, weil es nicht zu verbergen ist. Wenn man sieht: 1973 in Leipzig geboren, aber in Aachen zur Schule gegangen – in den Achtzigerjahren hat jeder sofort gefragt.

Haben Sie damals Vorurteile gegenüber Ihrer Herkunft aus dem Osten gespürt?

Nein, damals war es nur eine interessante Geschichte, eine Ausnahmegeschichte. Es gab kein Klischee vom Ostler. Und wenn ich in Leipzig zu Besuch bei meiner Großmutter war, gab es eine Neugier dem Westen gegenüber. Es war für mich der Schock der Wende, dass dann diese Klischees einsetzten. Ich wurde gezwungen, mich zu positionieren. Vorher war ich mit meiner Geschichte ich. Dann kamen diese Kategorien auf, es gab dieses Misstrauen – und ich habe mich immer angesprochen gefühlt, in beiden Kategorien.

Das heißt: Wenn Ostdeutsche schlechtgeredet wurden genauso, wie wenn es gegen den Westen ging?

Ja, diese Vorurteile im Westen nach der Maueröffnung, die Leute nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg, die wollen nur die D-Mark haben, die haben mich wahnsinnig getroffen. Ich fand es so unangemessen, wenn ich an meine Familie und deren Freundeskreis in Leipzig dachte. Umgekehrt ging es mir, wenn ich die Leipziger hörte: Jetzt kommen die aus dem Westen, okkupieren hier alles und spielen sich als Sieger auf. Es gab Freunde meines Vaters, die enttäuscht waren, weil sie sich nicht diese schnelle Vereinigung gewünscht hatten, sondern eine demokratische DDR. Die sahen das alles kritisch. Mein Vater hatte viele Jahre zuvor eine klare Entscheidung für die Bundesrepublik getroffen. Wir standen dazwischen. Ich war 17, als die Mauer fiel, ich habe die Wendezeit als große Verunsicherung erlebt.

Jetzt wird gerade sehr viel über Ost und West gesprochen, ausgehend von Dirk Oschmanns Buch, aber auch wegen der Umfragewerte für die AfD. Haben Sie sich vorstellen können, dass es uns so lange begleitet?

Für mich war es ein großes Thema, von dem ich wusste, dass es mich lange beschäftigen würde. Die Neunzigerjahre, als ich studierte, habe ich als sehr unversöhnlich erlebt. Und die Fehler, die damals gemacht wurden, haben natürlich Auswirkungen bis heute, auch auf die nach 1989 Geborenen. Es hat mich immer verletzt, wenn jemand aus Hamburg oder München gesagt hat, das interessiert doch so lange nach der Wende gar keinen mehr. Ich bin froh, dass heute intensiver darüber gesprochen wird, was falsch gemacht wurde.

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Mir ist es manchmal zu viel. Auch wenn man nun betonte, dass Sandra Hüller in Suhl geboren wurde: Sie war Schülerin, als die Mauer fiel!

Ich finde das ganz wichtig. Wenn so eine Schauspielerin aus Thüringen kommt, kann man das gar nicht oft genug sagen. Thüringen ist eben nicht nur Björn Höcke, Thüringen ist auch Sandra Hüller. Was mich auch sehr schmerzt, die ganze Zeit, ist dieses Bild von Sachsen im Fernsehen: Das sind oft pöbelnde Pegida-Leute. Wie werden denn die Freunde meiner Eltern oder meine Onkel repräsentiert? Was stellt sich jemand in Westdeutschland vor, wenn ich über meine Verwandten rede? Solche Leute? Es geht darum, wie diese Bundesländer in Gesamtdeutschland verankert sind. Da ist noch viel Arbeit zu leisten, bis die Leute in Frankfurt am Main oder München dann nicht nur an AfD-Aufmärsche denken.

Sie haben mehrere Jahre in Italien gelebt, brauchten Sie Abstand?

Ich habe die Neunzigerjahre zu einem großen Teil auf Sizilien verbracht, weil mich diese Gemengelage überfordert hat. Die Stasi-Enthüllungen mit den undifferenzierten Verurteilungen: Es gab nur Schlagzeilen, kaum einmal die Frage, wie gravierend der Verrat war. Menschen, die immer in der Bundesrepublik gelebt hatten, spielten sich als moralische Richter auf. Ich habe lange keine Haltung dazu finden können. Ich konnte mich nicht richtig einsortieren und war orientierungslos in diesen Ost-West-Dingen. Italien war so eine Art Fluchtpunkt und eine Gegenwelt, wo das alles nicht so eine Rolle spielte.

Wie ging es weiter?

Als ich als Lektorin zu S. Fischer ging, habe ich einige Autorinnen und Autoren betreut, die aus dem Osten kamen. Und bei Aufbau merkte ich dann: Hier ist es wichtig, dass ich wenigstens zum Teil eine ostdeutsche Herkunft habe. Es galt ein Erbe zu bewahren, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verbinden und auch für die Autoren da zu sein. Da hatte ich schon die Distanz, um damit besser umzugehen.

Ist Aufbau ein Ostwestverlag?

Das empfinde ich schon so. Es war der bedeutendste Literaturverlag der DDR. In der Gegenwart kam alles zusammen, Feuchtwanger, Fallada, Anna Seghers als literarisches Erbe, die internationale Literatur und junge deutschsprachige Literatur: Das fand ich spannend mitzugestalten.

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Nun gab es nicht nur die politische Wende als Einschnitt in Ihrem Leben. Sie deuten es im Epilog an, dass Sie einen schweren gesundheitlichen Zusammenbruch hatten. Hängt die Entstehung dieses so persönlichen Buchs damit zusammen?

Tatsächlich sind die ersten hundert Seiten dieses Buchs im Krankenhaus entstanden. In der Zeit waren meine Kindheit und die Erinnerung an Menschen, die lange schon tot sind, wie meine Großmutter und mein Vater, plötzlich sehr präsent. Sie waren mir näher als mein Berliner Alltag. Ich fand in meinem Computer eine alte Datei, 15 Seiten, die ich gleich nach dem Tod meines Vaters begonnen hatte, und diesen Text habe ich wieder aufgenommen und fortgesetzt. Ich glaube nicht, dass ich das jetzt noch so schreiben könnte. Der Epilog ist keine Erklärung, wie Sie sagen: Er deutet den Schreibanlass an. Diese Krankheit war lebensgefährlich, und ich hatte danach das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein.

War das Schreiben, also dieses Buch, eine Art Rettung?

Auf jeden Fall, das Schreiben, das Lesen. Anfangs konnte ich nur Hörbücher hören, langsam ging es mit dem Lesen wieder. Und dann war der Impuls zu schreiben sehr stark da. Man ist ja in so einer Klinik auch räumlich reduziert, das Schreiben hat mich dort rausgetragen. Und hat mir die Welt wieder gezeigt. Das war ein großes Glück.

Haben Sie diesen Einschnitt als Neustart erlebt?

Es war ein Neubeginn. Ich habe, das beschreibe ich im Epilog ein bisschen verklausuliert, fünf Wochen im Koma gelegen. Und es besteht immer die Gefahr, dass man nach einem Koma verwirrt ist, vielleicht temporär, vielleicht dauerhaft. Manche Menschen, finden aus dieser Koma-Welt nicht mehr heraus. Bei mir ging es relativ schnell, zum Glück. Rückblickend kann ich sagen: Ich habe nicht nur schlechte Erinnerungen an die Zeit. Das war natürlich schlimm, aber auch dort lebt man. Und ich habe in den ersten Wochen sehr intensiv geträumt.

Waren es erinnernde Träume – an die Kindheit?

Meine Tochter tauchte sehr viel auf, es vermischten sich Bilder von Personen und Orten. Die Träume stellten sich zwischen mich und das aktuelle Leben, die Krankenhausrealität. Das hat vielleicht den Weg ein Stück frei gemacht, um beim Schreiben in diese Kinderperspektive zu kommen. Es ging mir darum, über ein Kind zu schreiben, das keine eigene Entscheidung getroffen hat, sondern dem der Wechsel von Ost nach West passierte.

Es gibt zwar Sachbücher, aber neben „Lagerfeuer“ und „Welten auseinander“ von Julia Franck kaum erzählende Literatur über Menschen, die in den Westen geflohen sind. War Ihnen das bewusst?

Mir war bewusst, dass es etwas ist, das ich erzählen konnte, weil ich es miterlebt habe. Es ist meine Geschichte, aber ich denke, dass sehr viele Menschen etwas für sich herauslesen können. Wie mein Vater sich mühte, in diesem Staat sich als guter Bürger zu erweisen. Er fühlte eine große Dankbarkeit, weil wir von der Bundesrepublik freigekauft worden sind. Mein Vater war so alt, wie ich jetzt bin, als er in dieses neue Land kam und sich eine Existenz aufbauen musste. Seine Anspannung und Nervosität, zum Teil seine Ungerechtigkeit hatten auch viel damit zu tun.

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Noch einmal zurück zum Beginn: Am Mittwoch beginnt die Leipziger Buchmesse. Sie kennen die Branche aus unterschiedlichen Positionen, in denen Sie für andere und mit anderen gearbeitet haben: als Übersetzerin, als Scout, als Lektorin, als Verlagsleiterin. Wie erleben Sie die Rolle als Autorin?

Mir macht die Arbeit für die Literatur sehr viel Freude. Wenn ich mit dem eigenen Buch befasst bin, bin ich zuerst Autorin. Ich schreibe schnell eine Fassung und arbeite dann intensiv daran. Das ist mir die liebste Phase, wenn da schon etwas steht, das ich bearbeiten kann. Dieses Buch ist für mich besonders, aus vielen Gründen. Ohne die Krankheit hätte ich es nicht so schreiben können. Ich hätte dieses Ich nicht gefunden, es ist das erste Buch, in dem ich „ich“ sage. Das ist ein Schritt.

QOSHE - Constanze Neumann: Menschen, die immer in der BRD gelebt haben, spielten sich als Richter auf - Cornelia Geißler
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Constanze Neumann: Menschen, die immer in der BRD gelebt haben, spielten sich als Richter auf

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19.03.2024

Der Satz „Als ich klein war, lebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt.“, mit dem Constanze Neumann ihr Buch „Das Jahr ohne Sommer“ beginnt, bringt etwas zum Klingen. Bei ihren Leserinnen und Lesern, die in der DDR aufwuchsen, ist es eine Erinnerung; sie kennen die biografische Erfahrung des Bruchs, der Veränderung.

Bei der in Leipzig geborenen Autorin aber hat der Satz eine viel schwerwiegendere Bedeutung. Als sie drei Jahre alt war, planten ihre Eltern, mit einer Fluchthilfeorganisation in den Westen zu gelangen. Sie wurden inhaftiert und Monate später von der Bundesrepublik freigekauft. Das kleine Mädchen kam zunächst ins Heim, dann zu den Großeltern. Es dauerte ein reichliches Jahr, bis das Kind aus dem einen Land in das Land der Eltern übersiedeln durfte.

„Das Jahr ohne Sommer“ ist ein Roman, der sehr stark berührt, weil er die Auswirkungen der deutschen Teilung auf ein Kind und auf eine konkrete Familie zeigt. Constanze Neumann leitete bis Ende Januar den Aufbau-Verlag in Berlin, sie veröffentlichte bereits mehrere Bücher, aber noch nie schrieb sie so persönlich. Das hat mit einem weiteren gravierenden Ereignis in ihrem Leben zu tun. Auch darüber sprachen wir bei einem Treffen vor der Leipziger Buchmesse im Ullstein-Verlag, wo das Buch dieser Tage erschienen ist.

Frau Neumann, Sie haben so vielen Büchern auf die Welt geholfen, wie geht es Ihnen mit diesem eigenen, so persönlichen?

Ich freue mich, dass es da ist. Eine Distanz habe ich noch nicht dazu, anders als bei dem letzten ist es meine persönliche Geschichte. Das Erzählen ist eine Art der Verarbeitung und des Abschlusses.

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17.03.2024

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„Das Jahr ohne Sommer“ zeigt, wie belastend Sie die Ost-West-Herkunft erlebten. Ist es leichter, jetzt darüber zu sprechen, weil es einmal geschrieben ist?

Es war immer so, dass ich darüber offen gesprochen habe, weil es nicht zu verbergen ist. Wenn man sieht: 1973 in Leipzig geboren, aber in Aachen zur Schule gegangen – in den Achtzigerjahren hat jeder sofort gefragt.

Haben Sie damals Vorurteile gegenüber Ihrer Herkunft aus dem Osten gespürt?

Nein, damals war es nur eine interessante Geschichte, eine Ausnahmegeschichte. Es gab kein Klischee vom Ostler. Und wenn ich in Leipzig zu Besuch bei meiner Großmutter war, gab es eine Neugier dem Westen gegenüber. Es war für mich der Schock der Wende, dass dann diese Klischees einsetzten. Ich wurde gezwungen, mich zu positionieren. Vorher war ich mit meiner Geschichte ich. Dann kamen diese Kategorien auf, es gab dieses Misstrauen – und ich habe mich immer angesprochen gefühlt, in beiden Kategorien.

Das heißt: Wenn Ostdeutsche schlechtgeredet wurden genauso, wie wenn........

© Berliner Zeitung


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