Wer hätte gedacht, wie schlecht die Akustik des Gewandhauses in Leipzig sein kann – eines der besonderen Konzerthäuser in Deutschland, üblicherweise von einem renommierten Orchester bespielt? Als Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwochabend seine Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse begann, rief eine Frau sehr laut etwas aus dem höchsten Zuschauerrang in den Saal.

Das Störgeräusch war heftig, die Worte von Scholz gingen trotz Mikrofon unter. Die Rufe allerdings waren nur verzerrt, die Worte „Palästina“ und „Genozid“ wollen Ohrenzeugen aus der Nähe gehört haben. Unten kam nur ein Kreischen an, keine Botschaft.

Nach etwa zwei Minuten versuchte auch ein Mann, einen Protestruf abzusetzen, diesmal aus dem ersten Rang, auch der kam nur als Laut ohne Inhalt an. Die Störer wurden hinausgebracht. Der Bundeskanzler durfte sprechen, machte sich allerdings weder große Mühe, besonders überzeugend herüberzukommen, noch hielt seine Rede Überraschungen bereit. Immerhin sagte er: „Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen, nicht des Geschreis“, was die Mehrheit des Publikums klatschend goutierte.

Olaf Scholz pries das niederländisch-flämische Gastlandprogramm, lobte das Lesen als solches, das bedeute, sich auf andere Gedanken, andere Welten einzulassen, würdigte bei der Gelegenheit auch die literarischen Übersetzer, die überhaupt erst die Weltliteratur ermöglichten.

Scholz ging auf die politische Lage vor den Wahlen in diesem Jahr ein und sagte: „Folgen wir denen nicht, die uns spalten wollen, die ganzen Gruppen in diesem Land die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft absprechen wollen. Glauben wir niemals denen, deren Antworten am Ende auf Intoleranz, Ausgrenzung und Hass hinauslaufen.“

19.03.2024

•gestern

19.03.2024

•gestern

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In diesem Sinne hatten die neue Buchmesse-Chefin Astrid Böhnisch und Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, zu Beginn der Veranstaltung eine Aktion geplant, die ein bisschen an die Choreografien in Fußball-Stadien erinnerte. Sie baten das Publikum, die auf den Plätzen liegenden DIN-A4-Bögen auseinanderzufalten und hochzuhalten. „Demokratie wählen. Jetzt.“ stand in weißen Buchstaben auf rotem, grünem, dunkelgelbem oder violettem Grund, ein „gemeinsames Signal“ sollte das sein, aber für wen?

Omri Boehms „Radikaler Universalismus“ – Philosophie, die vermitteln will

19.03.2024

Die Buchmessen-Eröffnung war überhaupt etwas unglücklich geplant. So führte eine Moderatorin durchs Programm, die kaum erkennbare Nähe zum Thema zeigte. Ihre Fragen an die Ministerpräsidenten der Niederlande, von Flandern und Sachsen wirkten ungeschickt, ihren Scherzen fehlte der Witz. Schließlich geriet die kluge Laudatio der Soziologin Eva Illouz auf den mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichneten Philosophen Omri Boehm zu lang. Sie kreiste um den Gedanken der Aufklärung und führte damit zum Buch „Radikaler Universalismus“ des Geehrten.

Der ging kurz auf die Proteste vom Anfang ein, warf den Leuten vor, einen Fehler gemacht zu haben und nannte es einerseits richtig, sie zu stoppen. Andererseits sagte er, man sollte sich dafür interessieren, was diese Menschen zu sagen hätten. Auch als er dann seinen vorbereiteten Text aufnahm und über Wahrheit und Freundschaft sprach, war das keine rein philosophische, sondern auch eine politische Rede. Nach dem mörderischen Angriff von Hamas-Kämpfern auf die Menschen in den Kibbuzen nahe der Grenze zu Gaza am 7. Oktober 2023, als ganze Familien geschlachtet und Kinder vor den Augen ihrer Eltern ermordet wurden, sei es schwer, noch auf eine jüdisch-palästinensische Freundschaft zu hoffen, wie es der Schriftsteller Amos Oz einst tat, den er zitierte.

Gastlandauftritt auf der Leipziger Buchmesse: Die Welt verändert sich, die Literatur auch

gestern

„Und was ist mit der deutsch-jüdischen Freundschaft?“, fragte Boehm dann, der seine Rede auf Deutsch hielt. Er nannte sie ein „wahres Wunder“, das ihm besonders am Herzen liege. Es könne jedoch keine deutsch-jüdische Freundschaft existieren, „wenn sie in diesen dunklen Zeiten keinen Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen“. Der Applaus war groß, viele Leute im Publikum standen auf, und als das Gewandhausorchester dann noch Beethovens „Egmont“-Ouvertüre spielte, hat die Leipziger Buchmesse des Jahres 2024 dann doch einen würdigen, festlichen Anfang genommen.

QOSHE - Deutsch-israelischer Philosoph Omri Boehm auf der Leipziger Buchmesse: Lasst uns die Proteste hören - Cornelia Geißler
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Deutsch-israelischer Philosoph Omri Boehm auf der Leipziger Buchmesse: Lasst uns die Proteste hören

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21.03.2024

Wer hätte gedacht, wie schlecht die Akustik des Gewandhauses in Leipzig sein kann – eines der besonderen Konzerthäuser in Deutschland, üblicherweise von einem renommierten Orchester bespielt? Als Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwochabend seine Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse begann, rief eine Frau sehr laut etwas aus dem höchsten Zuschauerrang in den Saal.

Das Störgeräusch war heftig, die Worte von Scholz gingen trotz Mikrofon unter. Die Rufe allerdings waren nur verzerrt, die Worte „Palästina“ und „Genozid“ wollen Ohrenzeugen aus der Nähe gehört haben. Unten kam nur ein Kreischen an, keine Botschaft.

Nach etwa zwei Minuten versuchte auch ein Mann, einen Protestruf abzusetzen, diesmal aus dem ersten Rang, auch der kam nur als Laut ohne Inhalt an. Die Störer wurden hinausgebracht. Der Bundeskanzler durfte sprechen, machte sich allerdings weder große Mühe, besonders überzeugend herüberzukommen, noch hielt seine Rede Überraschungen bereit. Immerhin sagte er: „Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen, nicht des Geschreis“, was die Mehrheit des Publikums klatschend........

© Berliner Zeitung


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