Am 3. Juni vor einhundert Jahren starb Franz Kafka. Das letzte Foto von sich hat er Anfang Oktober 1923 im Berliner Kaufhaus Wertheim aufnehmen lassen. Da war er 40 Jahre alt. Es ist ein Automatenbild; an dem Exemplar in der Ausstellung „Das Fotoalbum der Familie Kafka“ im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin sieht der weiße Rand rechts etwas schief aus. Dies deutet darauf hin, dass es von einem längeren Streifen abgeschnitten wurde. Hans-Gerd Koch, der Kurator der Ausstellung, sagt, eine Nichte Kafkas habe dieses Foto Klaus Wagenbach geschenkt.

In dieser knappen Erklärung steckt schon eine Menge drin. Der Verleger Klaus Wagenbach (1930–2021) hat seine Dissertation über Kafka geschrieben und mehrere Bücher zu seinem Leben und Werk herausgegeben, literarische Spaziergänge mit vielen Fotos etwa. Wegen seiner engen Beziehung zu dem Autor bezeichnete er sich gern schalkhaft als „dienstälteste Witwe Kafkas“.

Zum Forscher-Familienkreis dazu gehört aber auch der 1954 geborene Literaturwissenschaftler Hans-Gerd Koch, der zum Beispiel in der „Kritischen Ausgabe der Werke Franz Kafkas“ die Tagebücher und Briefbände ediert hat. Er unterhält enge Kontakte zu den Nachfahren, hat ihre Archive – die oft nur Kartons mit Erinnerungsstücken sind – gesichtet. Im Verlag Klaus Wagenbach setzt er die Arbeit des Verlags-Namensgebers mit dem Band „Kafkas Familie“ fort.

27.02.2024

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Nimmt man den Schutzumschlag des Buches ab, glaubt man wirklich, ein Fotoalbum in der Hand zu halten: Der meerblaue Einband, das ungewöhnliche Format und innen das feste Papier bewirken diesen Eindruck. Aus den verschiedensten Quellen sind hier offizielle und Freizeitbilder zusammengetragen, sind frühe Studioaufnahmen um Urlaubspostkarten ergänzt. Fotos zur Heiratsvermittlung, Bilder von der Front des Ersten Weltkriegs, Aufnahmen von der Hopfenernte und vieles mehr.

Der Jurist, Beamte der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag und Schriftsteller Franz Kafka lässt sich auf begeisternde Weise mit seinen Schwestern und den Eltern, mit Onkel, Tanten und Cousinen erleben. Hans-Gerd Koch hat die Fotos nach Verwandtschaftsgrad, Generationen und Themen (auf Ausflügen, im Sanatorium) geordnet, mit Ort und Zeit beschriftet und um sehr, sehr viele aussagekräftige Zitate ergänzt.

Von jetzt an und in den kommenden Monaten bis zum Vorabend von Kafkas Todestag kann man in Berlin das Buch räumlich erleben. Die Ausstellung im Stabi Kulturwerk ist entsprechend der papierenen Gliederung in neun Kapiteln aufgebaut, sie muss zwar auf etliche Textteile verzichten (viele sind dennoch, in unterschiedlich großer Schrift deutsch-englisch an den Wänden und in den Vitrinen vorhanden), aber sie wird getragen von der Aura des Originals. Es sind hier die Fotos, Postkarten, Zettel zu sehen, die Franz Kafka selbst in der Hand hielt, beschriftete, in seinen Briefen oder Tagebüchern kommentierte.

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Da ist ein Kinderbild von ihm in einem gemusterten Anzug, mit einem Hut in der einen, einem Stab in der anderen Hand, das hat er im November 1912 seiner späteren Verlobten Felice Bauer in einen Brief gesteckt. Er beschrieb es so: „Das böse Gesicht war damals Spaß, jetzt halte ich es für geheimen Ernst.“ Zwei Monate später sendet er ihr aktuellere Bilder, findet aber nur schlechte Worte dafür: „Ich weiß mir keine Hilfe, das Blitzlicht gibt mir immer ein irrsinniges Aussehn, das Gesicht wird verdreht, die Augen schielen und starren.“

Und wenn man dann zum Beispiel das recht bekannte Foto von Franz Kafka mit seiner Schwester Ottla vor dem Eingang des Wohnhauses der Familie in Prag sieht, 1915 entstanden, dann erkennt man in der Ausstellung, dass immer nur Vergrößerungen im Umlauf sind, das Original ist passbildklein. Bei Ottla erholte er sich drei Jahre später auf dem Bauernhof, wo sie mittlerweile lebte, er kurierte dort seine Tuberkulose.

Die Ausstellung erzählt eine Art Familienbiografie, die auch für ihre Zeit steht, den Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Man kann sehen, wie der Vater Hermann Kafka vom Landjuden, der in Südböhmen nur eine bescheidene Schulbildung erhalten hatte, in Prag zum wohlhabenden Geschäftsmann aufstieg. Man kann sehen, wie die Kafkas in der tschechischen Hauptstadt verkehrten, Besuch empfingen und wie sie auf Reisen gingen.

Rund 130 Fotografien sind im Kulturwerk hinter Glas versammelt, in Kästen, die in die Wand auf Augenhöhe der Besucher eingelassen sind, sowie in klassischen Vitrinen. Winzige Postkartenschrift steht entziffert daneben gedruckt, einige Bücher sind in Erst- und Widmungsausgaben zu sehen. Ein paar überlebensgroße Fotos finden sich auf textile Trennwände gedruckt, zusammengesetzt aus Buchstaben. Und es stellt sich ein Eindruck her: Der als rätselhaft, scheu, düster empfundene Schriftsteller lebte in einem engen, liebevollen Familienverbund. „Es war eine große und bunte Verwandtschaft, die Kafka reichlich mit Themen für seine literarische Arbeit versorgte“, ist an einer Wand zu lesen.

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Der berühmte distanzierte „Brief an den Vater“ sei als Literatur zu verstehen, klärt Hans-Gerd Koch bei der ersten Führung auf, nicht als autobiografisch. Diese Interpretation ermöglicht er den Betrachtern durch die Zusammenstellung der Dokumente, tiefer geht der Einblick nun wiederum im Buch. Beide, der Band wie die Schau, schließen mit einem Stammbaum der Familie. Die Schwestern Franz Kafkas, Elli und Valli, starben im September 1942 im Vernichtungslager Chelmo. Ottla wurde 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Sie waren Juden.

Ausstellung: Das Fotoalbum der Familie Kafka. Stabi Kulturwerk, Unter den Linden 8. Di–So, 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Eintritt frei. Bis 2. Juni

Das Buch: Hans-Gerd Koch: Kafkas Familie. Ein Fotoalbum. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024. 208 Seiten, etwa 100 Abbildungen, 38 Euro

QOSHE - Franz Kafkas Leben in der Berliner Staatsbibliothek: Ein begehbares Familienalbum - Cornelia Geißler
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Franz Kafkas Leben in der Berliner Staatsbibliothek: Ein begehbares Familienalbum

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29.02.2024

Am 3. Juni vor einhundert Jahren starb Franz Kafka. Das letzte Foto von sich hat er Anfang Oktober 1923 im Berliner Kaufhaus Wertheim aufnehmen lassen. Da war er 40 Jahre alt. Es ist ein Automatenbild; an dem Exemplar in der Ausstellung „Das Fotoalbum der Familie Kafka“ im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin sieht der weiße Rand rechts etwas schief aus. Dies deutet darauf hin, dass es von einem längeren Streifen abgeschnitten wurde. Hans-Gerd Koch, der Kurator der Ausstellung, sagt, eine Nichte Kafkas habe dieses Foto Klaus Wagenbach geschenkt.

In dieser knappen Erklärung steckt schon eine Menge drin. Der Verleger Klaus Wagenbach (1930–2021) hat seine Dissertation über Kafka geschrieben und mehrere Bücher zu seinem Leben und Werk herausgegeben, literarische Spaziergänge mit vielen Fotos etwa. Wegen seiner engen Beziehung zu dem Autor bezeichnete er sich gern schalkhaft als „dienstälteste Witwe Kafkas“.

Zum Forscher-Familienkreis dazu gehört aber auch der 1954 geborene Literaturwissenschaftler Hans-Gerd Koch, der zum Beispiel in der „Kritischen Ausgabe der Werke Franz Kafkas“ die Tagebücher und Briefbände ediert hat. Er unterhält enge Kontakte zu den Nachfahren, hat ihre Archive – die oft nur Kartons mit Erinnerungsstücken sind – gesichtet. Im Verlag Klaus Wagenbach setzt er die Arbeit des Verlags-Namensgebers mit dem Band „Kafkas Familie“ fort.

27.02.2024

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Nimmt man den Schutzumschlag des Buches ab, glaubt man wirklich, ein Fotoalbum in der Hand zu halten:........

© Berliner Zeitung


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