Es gibt ein grundsätzliches Argument gegen Literatursendungen im Fernsehen: Die Zeit, die man vor einem Bildschirm verbringt, ist für das Lesen verloren. Das lässt sich leicht entkräften. Ein Gespräch über Bücher kann zum Lesen anregen, die Perspektive erweitern, Entdeckungen ermöglichen. Ältere Buchhändler erinnern sich dankbar an die Wirkung der ZDF-Sendung „Das literarische Quartett“ mit Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und einem wechselnden Gast, denn sie sorgte für Umsatz.

In einer Buchhandlung beginnt auch die neue Literatursendung mit der Schriftstellerin Helene Hegemann als Gastgeberin, in der Franz-Mehring-Buchhandlung an der Frankfurter Allee in Berlin. „Longreads“ heißt das Format. Das Wort kommt aus der Online-Welt und bezeichnet lange Texte – das Gegenstück also zur Schnipsel-Aufmerksamkeit der sozialen Medien.

„In dieser Sendung unterhalten wir uns mit einem Gast über ein bis zwei Bücher“, sagt Helene Hegemann zu Beginn, „völlig egal, was für welche, Hauptsache, sie sind gut.“ Produziert wird „Longreads“ von den Sendern RBB und SWR sowie dem Portal ARD Kultur für die Mediathek, wo es ab 26. März verfügbar ist. Vermutlich steht es anders etwa als das heutzutage von Thea Dorn moderierte „Literarische Quartett“ weniger unter dem Druck des linearen Fernsehens, Einschaltquoten zu erzielen.

Dass aber die Fernsehsender auch mit solchen Produktionen Erwartungen verbinden, zeigt die Tatsache, dass es nach einer dreiteiligen Pilotstaffel des RBB-ARD-Kultur-Formats „Studio Orange“ (2022/23) von Sophie Passmann keine Fortsetzung gab. Dort war Helene Hegemann in der ersten Sendung zu Gast und konnte Erfahrungen sammeln.

•vor 3 Std.

•vor 3 Std.

22.03.2024

•gestern

gestern

Krankte „Studio Orange“ vor allem daran, dass die Gespräche möglichst wenig intellektuell herüberkommen sollten, nehmen Helene Hegemann und ihre Regisseurin Lena Brasch (zuweilen im Bild zu sehen) ihr Publikum ernst. Sie trauen Menschen, die sich für Bücher interessieren, zu, dass sie längeren Gesprächen folgen können, ohne dass Witze gemacht oder Spielchen ausgedacht werden müssen. Folge eins beginnt in dem Laden, in dem der Buchautor, Investigativjournalist und Berliner-Zeitungs-Kolumnist Thilo Mischke seine ersten Schritte machte; er gehört seiner Mutter Tatjana Mischke. Als er sein Abitur wiederholen musste, ließen ihn die Eltern als Strafarbeit den gesamten Antiquariatsbereich der Buchhandlung ordnen und in Tabellen überführen.

Helene Hegemann: Wie kann jemand Genuss daraus ziehen, jemand anderen zu quälen?

25.06.2022

Helene Hegemann lässt sich solche Geschichten erzählen und zeigt sich sehr neugierig auf Mischkes Leben und Arbeit. Zur Einführung hatte sie auch gesagt, es gehe neben den Büchern um „ein Thema, das uns irgendwie beschäftigt“. Dabei gerät leider sein vorgeschlagenes Buch „Nichts“ von Janne Teller in den Hintergrund. Auch später, an anderem Ort, bekommt die von Hegemann mitgebrachte Gerichtsreportage „V13“ über den Bataclan-Prozess von Emmanuel Carrère nicht sehr viel Raum. „Longreads“ geht also eher in die Tiefe der durch Literatur angeregte Lebensfragen als in die inhaltliche (oder gar: ästhetische) Auseinandersetzung mit dem Buch.

Anders stellt es sich in der zweiten Folge dar. Dafür stellt die Politikwissenschaftlerin, Kulturjournalistin und Buchautorin Samira El Ouassil den Comic „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ von Art Spiegelman vor: Sie erzählt nicht nur den Hintergrund des Pulitzer-Preis-gekrönten Buches über den Holocaust, redet nicht nur über ihr eigenes Verhältnis dazu, sie besteht auch darauf, über den Aufbau und die Art der Zeichnungen zu sprechen. Man kann zusehen, wie Helene Hegemann der Versuchung widersteht, talkshowmäßig ins Allgemeine abzudriften. Mit Jean Amérys Essaysammlung „Jenseits von Schuld und Sühne“ gibt sie eine weitere Ebene dazu.

Allerdings wirkt die Begegnung innerhalb einer halben Stunde dann doch oberflächlich. Wie man unerschrocken intensiv vor Kameras über Bücher reden kann, demonstriert die vor ein paar Tagen online geschaltete Plattform „Café lit“. Die gastgebende Literaturkritikerin Insa Wilke nennt sie einen Ort, an dem man zur Ruhe kommen und nachdenken kann. Klickt man nach den ersten beiden Sendungen von je mehr als anderthalb Stunden auf die dritte, erscheint nur Schrift. „Wir stellen uns vor, dass ‚Café lit‘ wachsen darf und ein sich entwickelnder Organismus sein könnte“, heißt es da. Für die Weiterarbeit suchte das Team auch auf der Leipziger Buchmesse nach einer Finanzierung. Literatur macht sich ganz gut auf Bildschirmen, braucht aber Geduld und Geld.

QOSHE - Helene Hegemanns neue Sendung „Longreads“: Literatur passt ins Fernsehen - Cornelia Geißler
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Helene Hegemanns neue Sendung „Longreads“: Literatur passt ins Fernsehen

10 1
25.03.2024

Es gibt ein grundsätzliches Argument gegen Literatursendungen im Fernsehen: Die Zeit, die man vor einem Bildschirm verbringt, ist für das Lesen verloren. Das lässt sich leicht entkräften. Ein Gespräch über Bücher kann zum Lesen anregen, die Perspektive erweitern, Entdeckungen ermöglichen. Ältere Buchhändler erinnern sich dankbar an die Wirkung der ZDF-Sendung „Das literarische Quartett“ mit Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und einem wechselnden Gast, denn sie sorgte für Umsatz.

In einer Buchhandlung beginnt auch die neue Literatursendung mit der Schriftstellerin Helene Hegemann als Gastgeberin, in der Franz-Mehring-Buchhandlung an der Frankfurter Allee in Berlin. „Longreads“ heißt das Format. Das Wort kommt aus der Online-Welt und bezeichnet lange Texte – das Gegenstück also zur Schnipsel-Aufmerksamkeit der sozialen Medien.

„In dieser Sendung unterhalten wir uns mit einem Gast über ein bis zwei Bücher“, sagt Helene Hegemann zu Beginn, „völlig egal, was für welche, Hauptsache, sie sind gut.“ Produziert wird „Longreads“ von den Sendern RBB und SWR sowie dem Portal ARD Kultur für die........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play