Ich habe in meinen 26 Jahren in Berlin noch nicht allzu oft die raue, gewalttätige und hässliche Fratze meiner Geburtsstadt erleben müssen. Dadurch, dass ich im gentrifizierten Prenzlauer Berg aufgewachsen bin, ging die größte Verletzungsgefahr eher von den Fahrrädern rasender Helikopter-Muttis auf dem Weg zur Kita oder von einem zu heiß servierten Chai-Latte in einem überteuerten Café aus.

Selbstverständlich gab es immer mal wieder unangenehme Begegnungen, die ich mir lieber erspart hätte. So wurde ich beispielsweise mal auf dem Heimweg nach einer Party vor einigen Jahren am Hackeschen Markt völlig unvorbereitet und grundlos von zwei halbstarken und offensichtlich von Drogen zugedröhnten Männern verprügelt. Gott sei Dank verfehlten sie mich im Rausch größtenteils und ich kam mit einem blauen Auge davon.

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Im Weinbergspark in Mitte bin ich kurz nach dem Abi mal von einem Dealer unter einem Vorwand hinter ein Restaurant gelockt und mit einem Messer bedroht worden – auch hier hatte ich am Ende Glück. Der Dealer rannte vor Schreck weg, nachdem ich meine damalige Begleitperson laut gerufen hatte: ehrlich gesagt ein wenig peinlich für einen angeblich so gefährlichen Straßengangster. Und natürlich gab es die ein oder andere sehr unbehagliche U-Bahn-Fahrt zu später Stunde, bei der die anderen Fahrgäste jetzt auch nicht direkt so aussahen, als würden sie älteren Damen ihren Platz anbieten.

Trotzdem habe ich mich grundsätzlich immer recht sicher gefühlt in Berlin. Dieser naive Eindruck wurde mir kürzlich wortwörtlich aus dem Kopf geschlagen.

Zur Einstimmung auf den Fußballsamstag ziehe ich mir gerne schon tagsüber mein Trikot über. Ich bin zwar gebürtiger Berliner, aber mein Vater kommt aus Dortmund und hat mir mit einem Stadionbesuch 2002, als ich fünf Jahre alt war und Dortmund bei diesem Spiel Deutscher Meister wurde, die Liebe für den BVB quasi mit in die Wiege gelegt. Ziemlich clever, Papa, muss man dir schon lassen. Lange Rede, kurzer Sinn: Für die Berliner Vereine hatte ich nie ein wirklich großes Interesse, auch wenn ich schon bei Hertha und Union im Stadion war. Aber gut, welcher Berliner war das noch nicht?

09.05.2024

•gestern

09.05.2024

Als ich mir also in Erwartung des späteren Besuchs in der BVB-Fußballkneipe in der Auguststraße in Mitte mein schwarz-gelbes Trikot übergestreift habe, wollte ich vorher noch mit ein paar Freunden in Kreuzberg die Sonne im Park genießen.

Im ach so herrlichen und schönen Kreuzberg, über welchen Tripadvisor-Touristen gerne den Satz „Wow, that's so Berlin“ loslassen, bin ich sonst eigentlich eher selten unterwegs. Wenn es mich dann ab und zu am 1. Mai oder beim ein oder anderen Club-Abend doch mal dorthin verschlägt, finde ich die raue Stimmung dort eher unangenehm, und freue mich, wenn ich die nächtliche Fahrt mit der U8 überstehe und wieder in meinem rosaroten und „langweiligen“ Kinderwagen-Bezirk Prenzlauer Berg ankomme.

Dass ich dann doch mal nach Kreuzberg gefahren bin, lag eher an den Überredungskünsten meiner Freunde, die mal einen Tapetenwechsel zum immergleichen Kiez haben wollten.

Gesagt, getan. Während wir mit einem Bier in der Hand durch die Wrangelstraße in der Nähe des Görlitzer Parks im angeblich im Gegensatz zu früher heute so friedvollen Kreuzberg liefen und die Menschenmassen aufgrund des sommerlichen Wetters immer größer wurden, tippte mir ein offensichtlich stark alkoholisierter, schätzungsweise Ende 20-jähriger Mann auf die Schulter. Mit wütender und lauter Stimme raunte er: „Ey, wenn du nicht sofort das Trikot ausziehst, dann hau ich dir aufs Maul.“

Ich dachte natürlich zunächst, das sei ein schlechter Witz. Als mir der Typ dann aber immer mehr bedrohlich nahe kam und mich am Kragen packte, war mir klar, dass diese völlig aberwitzige Forderung verdammt ernst gemeint war.

Er sagte mir, dass es in Berlin keine anderen Fans als die von Hertha und Union geben dürfte und man mit Schlägen rechnen müsse, wenn man mit einem anderen Trikot hier herumlaufe. Dann ließ er seinem absurden Gerede eine noch absurdere Handlung folgen und setzte seine Androhung von Schlägen in die Tat um. Patsch, patsch. Ehe ich mich versah, haute mir der Typ zweimal auf den Kopf und auf den Rücken.

Als meine Freunde die völlig überraschende Attacke mitbekamen, eilten sie zur Seite und konnten den besoffenen Schläger von mir wegziehen. Nachdem ich ihnen klarmachen konnte, dass der Täter mich kaum erwischt hatte und somit alles gut sei bei mir, musste ich fast ein wenig lachen, da ich nicht glauben konnte, was da gerade eben passiert war.

Dass man jemandem einfach so eine über den Schädel zieht, nur weil er ein „falsches“ Fußballtrikot anhat. Wo bitteschön kommen wir denn da hin in Berlin? Da ich selbst das Gegenteil eines Schlägertyps bin und als im Prenzlauer Berg Aufgewachsener naturgemäß ein Grundbedürfnis nach Harmonie habe, hatte ich auch keine Ambitionen, mich körperlich groß zu wehren, da die Attacke auch schnell vorbei war.

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06.05.2024

Ich versuchte mich mit dem Hinterherwerfen meiner fast leeren Bierdose wenigstens ansatzweise zu wehren, verfehlte den Typen dabei allerdings deutlich um einen Meter, da sich der Alkohol auch bei mir in der prallen Sonne schon etwas bemerkbar machte.

Der Angreifer ist dann einfach weggegangen. Vermutlich auf der Suche nach dem nächsten Menschen mit einem Nicht-Hertha- oder Nicht-Union-Trikot, um noch ein paar weitere Schläge zu verteilen. Was man halt anscheinend so macht an einem Samstagnachmittag in Kreuzberg, wenn man nichts Besseres im Leben zu tun hat.

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21.04.2024

Dieser feige Angriff hat mir eines nochmal ganz deutlich vor Augen geführt: Auch wenn der Prenzlauer Berg den Ruf als spießige, von Biomärkten überschwemmte Schwaben-Hochburg innehat, ziehe ich ihn dem von vielen abgefeierten ach so „Berlin-liken“ Kreuzberg jederzeit vor, auch wenn ich dafür eventuell diverse Häme aus meinem Freundeskreis in Kauf nehme. In meinem Bezirk habe ich jedenfalls noch nie aufs Maul bekommen. Jetzt weiß ich: Sicher ist Berlin auf jeden Fall nicht. Für viele keine neue Erkenntnis, für mich dafür jetzt umso mehr.

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Brutal Berlin: Wenn ein BVB-Trikot zur Gefahr für die Gesundheit wird

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11.05.2024

Ich habe in meinen 26 Jahren in Berlin noch nicht allzu oft die raue, gewalttätige und hässliche Fratze meiner Geburtsstadt erleben müssen. Dadurch, dass ich im gentrifizierten Prenzlauer Berg aufgewachsen bin, ging die größte Verletzungsgefahr eher von den Fahrrädern rasender Helikopter-Muttis auf dem Weg zur Kita oder von einem zu heiß servierten Chai-Latte in einem überteuerten Café aus.

Selbstverständlich gab es immer mal wieder unangenehme Begegnungen, die ich mir lieber erspart hätte. So wurde ich beispielsweise mal auf dem Heimweg nach einer Party vor einigen Jahren am Hackeschen Markt völlig unvorbereitet und grundlos von zwei halbstarken und offensichtlich von Drogen zugedröhnten Männern verprügelt. Gott sei Dank verfehlten sie mich im Rausch größtenteils und ich kam mit einem blauen Auge davon.

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Trotzdem habe ich mich........

© Berliner Zeitung


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