Auf der ESC-Bühne läuft seit Jahren eine Art Pyronale. Es qualmt und brennt, jedes Jahr mehr. Wenn Slowenien zehn Feuer-Raketen von der Bühne schießt, kommt Island im Jahr darauf womöglich mit zwanzig – da muss man rechtzeitig mit dreißig planen. Dasselbe gilt für LED-Kostüme, Flic-Flac-Tänzer, Trommeln und Hologramme. Darauf verzichten? Dann tun’s doch die anderen. Und gewinnen womöglich.

Wo früher ein Hintergrund-Chor stand, leuchtet heute eine Multimedia-Wand. Die Sänger muss man im Nebel suchen. Hat man sie gefunden, sieht man sogar ihren kleinen Finger durchchoreografiert. Ihre Stimme ist live, doch Menschen mit Gitarre, Harfe oder Geige sind Kulisse. Die Instrumente, die man hört, stammen vom Band. Die Songs entstehen in internationalen und anonymen Hochleistungs-Hit-Maschinen. Im Widerspruch dazu betont der ESC aufdringlich Nationen und Flaggen.

Seit neuestem sind zusätzlich computergesteuerte Video-Effekte für die Bildschirme angesagt. Es geht wohl darum, der Videoclip-Ästhetik so nah wie möglich zu kommen. Als wäre der Bühnenauftritt eine störende Begrenzung. Die Frage ist, warum man den ESC dann nicht gleich durch einen internationalen Videoclip-Wettbewerb ersetzt.

Viele wenden ein: Das ist doch gerade das Tolle am ESC: der Trash, das Übertriebene, das Künstliche. Aber das Gleichgewicht stimmt nicht mehr. Zu viel Brimborium, zu wenig Sound.

Ausnahmen bestätigen die Regel: Vor einigen Jahren gewann der portugiesische Jazz-Sänger Salvador Sobral, der all den Klimbim wegließ und einfach nur sang. Das Lied, von seiner Schwester komponiert, war kein Knaller, aber die rebellische Außenseiter-Pose überzeugte. Und er kritisierte sogar das Feuerwerk-Geblende. Leider zog er ziemlich überheblich über Wegwerf-Musik her, womit er offensichtlich auch die ESC-Songs meinte – außer seinem eigenen natürlich. Elitär und peinlich.

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Dabei gibt es beim ESC nach wie vor Musik-Acts, die Spaß machen, ein abwechslungsreiches und spannendes Spektrum an Popsongs. Der ESC müsste sich nur auf sein ursprüngliches Vorbild besinnen: das Sanremo-Festival in Italien. Dieses ist im Lauf der Jahrzehnte durch Höhen und Tiefen gegangen. Es gab sogar eine Phase mit Voll-Playback, da kam auch der Gesang vom Band. Längst ist man in Sanremo aber wieder angelangt bei Voll-Musik: live gesungen, live gespielt, live übertragen.

Das berührt, weil Menschen mehr wagen und mehr können müssen. Es bewegt, wenn Menschen, die Geige, Keyboard, Gitarre spielen, sich mit den Sängern eintunen, im Moment, am Ort, ohne Deckung. Dieses unsichtbare Pingpong-Spiel zwischen Interpreten, Band, Chor und Zuhörern fesselt. Dem Glamour, dem Theatralischen tut das keinen Abbruch – im Gegenteil, schließlich wird in der Oper auch live gespielt.

Deshalb: Limitiert die Gimmicks auf der Bühne. Keine Flammen, Rhön-Räder und Schein-Instrumente mehr. Steckt das dadurch gesparte Geld in echte Pop-Orchester! Glamour-Fans kämen umso mehr auf ihre Kosten: Auch ein Dirigent kann mit irrer Frisur und extravaganter Garderobe auffallen. Und kein Feuerwerk würde das zuqualmen.

Giuseppe Pitronaci arbeitet als freier Journalist und DJ. Er hat eine eigene Partyreihe namens „Palermo-Club“ mit italienischen Gassenhauern.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

QOSHE - Eurovision Song Contest: Zu viel Brimborium, zu wenig Sound - Giuseppe Pitronaci
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Eurovision Song Contest: Zu viel Brimborium, zu wenig Sound

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10.05.2024

Auf der ESC-Bühne läuft seit Jahren eine Art Pyronale. Es qualmt und brennt, jedes Jahr mehr. Wenn Slowenien zehn Feuer-Raketen von der Bühne schießt, kommt Island im Jahr darauf womöglich mit zwanzig – da muss man rechtzeitig mit dreißig planen. Dasselbe gilt für LED-Kostüme, Flic-Flac-Tänzer, Trommeln und Hologramme. Darauf verzichten? Dann tun’s doch die anderen. Und gewinnen womöglich.

Wo früher ein Hintergrund-Chor stand, leuchtet heute eine Multimedia-Wand. Die Sänger muss man im Nebel suchen. Hat man sie gefunden, sieht man sogar ihren kleinen Finger durchchoreografiert. Ihre Stimme ist live, doch Menschen mit Gitarre, Harfe oder Geige sind Kulisse. Die Instrumente, die man hört, stammen vom Band. Die Songs entstehen in internationalen und anonymen Hochleistungs-Hit-Maschinen. Im Widerspruch dazu betont der ESC aufdringlich Nationen und Flaggen.

Seit neuestem sind zusätzlich computergesteuerte Video-Effekte für die Bildschirme........

© Berliner Zeitung


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