Eine der berühmtesten Aufnahmen des Berliner Künstlers und Fotografen Michael Ruetz zeigt einen Polizeibeamten, der sich verängstigt die Hände vor das Antlitz hält. Die Schutzgeste galt nicht seiner körperlichen Unversehrtheit, sondern der Gefahr, in einem buchstäblichen Sinn das Gesicht zu verlieren. Die Szene ereignete sich am Rande einer West-Berliner Studentendemonstration des Jahres 1967, und der Fotograf schien dabei alles andere als ein neutraler Beobachter zu sein. Das Entreißen der Anonymität wurde als eine Art Enttarnungsakt staatlicher Gewalt aufgefasst, und eine wichtige Waffe war in der gesellschaftlichen Konfliktphase jener Jahre das Gespür des Dokumentaristen für den richtigen Augenblick.

Der 1940 in Berlin geborene Michael Ruetz war nah dran, als Chronist der 68er-Protestbewegung festigte er früh seinen Ruf als Pressefotograf und teilnehmender Beobachter sozialer Auseinandersetzungen, insbesondere auch der Revolte des Prager Frühlings. Sein künstlerisches Hauptwerk, dem in Auszügen nun eine Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz gewidmet ist, handelt nicht von der Kunst des schnellen Fingers auf dem Auslöser, sondern von unbändiger Geduld im Strom der Zeit.

„Timescapes“ nennt Michael Ruetz eine 1966 begonnene Serie von Aufnahmen, die ein gigantisches, sich aus Dokumentation und Archivierung zusammensetzendes Kunstwerk ergeben, das 2023, nach fast 60 Jahren, zu einem Abschluss gekommen ist. Die Schauplätze und Motive befinden sich überwiegend in Berlin und Umgebung, aber es gehe ihm, so Michael Ruetz, nicht um Berlin, sondern um Zeit – jenes geheimnisvolle Kontinuum, das weder beginnt noch endet.

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„Timescapes“ sind so gesehen Zeitlandschaften, deren Veränderung Ruetz durch beharrliche Wiederholung in fotografische Reproduktionsverfahren bannt. Hört sich komplizierter an, als es ist. Mit bemerkenswerter Pedanterie hat Michael Ruetz binnen 60 Jahren verschiedene Plätze und Stadtlandschaften immer wieder neu aufgesucht und von exakt derselben Position aus fotografiert. Die Standortsuche sowie dessen genaue Markierung wurden dabei zu einem monströs anwachsenden Archivierungsprojekt.

Filmaufnahmen zeigen, wie Ruetz und seine Mitarbeiterin Astrid Köppe sich durch Notizen fräsen, um die exakte Kameraposition wiederzufinden. Der geläufige Begriff Zeitraffer wäre viel zu banal für dieses mit beinahe religiöser Inbrunst verfolgte Projekt dokumentarischer Perfektion. Astrid Köppes Genauigkeit, so sagt Ruetz nicht ohne Kokettiere, habe seine Nachlässigkeiten ersetzt. „Ich bin leider etwas schlampig.“

„Timescape 1077“ zeigt den Berliner Gendarmenmarkt von 1966 als von Gräsern überwucherte Brache, knapp vierzig Jahre später befindet sich hier der Stadtraum in Berlin-Mitte als ein Ensemble historischer Rekonstruktion. In der Ausstellung wird man durch fünf sehr unterschiedlich gestaltete Räume geführt, die die gestalterische Komplexität einer verführerisch simpel daherkommenden Vorher-nachher-Idee verdichten und vertiefen.

Der Zauber der Dokumentation durch Dauer, der Michael Ruetz durch die Gunst lebenslanger künstlerischer Schaffenskraft gewährt wurde, erschließt sich eindrucksvoll in einem Dark Room, in dem Fotoarbeiten vom Berliner Schlossplatz überblendet werden und die so den Abriss des Palasts der Republik und die anschließende Errichtung des Humboldt-Forums als kontemplativen Vorgang freigeben. Die Bilder rufen zeitgeschichtliche Erinnerung wach, verweisen aber auch auf die Magie bauhistorischer Veränderung.

Der der Generation der 68er angehörende Michael Ruetz ist seinem gesellschaftskritischen Ansatz treu geblieben. In der fast naturwüchsigen Konzentration auf die Veränderung des abgebildeten Raumes zeigt er nicht zuletzt auch die Gewalt des Abreißens und Bauens. Mit Sorge, so der 84-Jährige, registriere er die Genese Berlins zu einem Investorenparadies, in dem es den Bewohnern immer schwerer gemacht werde, zu bleiben. Aber: Er liebe Berlin und sein Chaos. Unvorstellbar, in einer so ordentlichen Stadt wie Wiesbaden zu leben.

Die Timescapes handeln nicht zuletzt von der künstlerischen Produktion selbst. Es ist sehr anrührend, in einem Begleitfilm beobachten zu können, wie der betagte Ruetz auf wacklige Leitern steigt und im Berliner Zeughaus ein Fenstersims erklimmt, um von dort aus die verschiedenen Bauphasen des Pei-Baus am Deutschen Historischen Museum zu dokumentieren. Viele Timescapes sind in Baugruben verschwunden. Manche für immer, andere tauchten wieder auf, etwa nachdem eine Brücke fertiggestellt worden war. Einige Landschaften hat Ruetz im Verlauf von Jahrzehnten immer wieder aufs Neue abgebildet, um an ihnen gerade die Nichtveränderung zu dokumentieren. Aber weht ein Blatt im Wind jemals wieder so wie zuvor?

Den Schlusspunkt der Ausstellung bildet die allein durch Tageslicht und Jahreszeit veränderte Projektion einer Kulturlandschaft im Süddeutschen, die als behagliches Idyll wahrgenommen werden kann, je nach Wetterlage aber auch zum bedrohlichen Naturraum anzuschwellen scheint.

Michael Ruetz hat sein Werk aus Abertausenden Fotografien von 360 verschiedenen Orten der Akademie der Künste vermacht, deren Mitglied er ist. Der minutiös geführte dokumentarische Katalog soll dabei nicht nur die Kellerregale der Akademie belasten. Die genau fixierten Standorte versteht Michael Ruetz als Einladung an jüngere Künstler und Fotografen, sein Werk fortzusetzen. Vergänglichkeit und Dauer der Zeit müssen weiter erforscht werden.

Poesie der Zeit. Michael Ruetz – Timescapes 1966–2023. Vom 9. Mai bis 4. August, Akademie der Künste am Pariser Platz.

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Wenn Standpunkte in Baugruben verschwinden – „Timescapes“, das Langzeitprojekt des Michael Ruetz

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10.05.2024

Eine der berühmtesten Aufnahmen des Berliner Künstlers und Fotografen Michael Ruetz zeigt einen Polizeibeamten, der sich verängstigt die Hände vor das Antlitz hält. Die Schutzgeste galt nicht seiner körperlichen Unversehrtheit, sondern der Gefahr, in einem buchstäblichen Sinn das Gesicht zu verlieren. Die Szene ereignete sich am Rande einer West-Berliner Studentendemonstration des Jahres 1967, und der Fotograf schien dabei alles andere als ein neutraler Beobachter zu sein. Das Entreißen der Anonymität wurde als eine Art Enttarnungsakt staatlicher Gewalt aufgefasst, und eine wichtige Waffe war in der gesellschaftlichen Konfliktphase jener Jahre das Gespür des Dokumentaristen für den richtigen Augenblick.

Der 1940 in Berlin geborene Michael Ruetz war nah dran, als Chronist der 68er-Protestbewegung festigte er früh seinen Ruf als Pressefotograf und teilnehmender Beobachter sozialer Auseinandersetzungen, insbesondere auch der Revolte des Prager Frühlings. Sein künstlerisches Hauptwerk, dem in Auszügen nun eine Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz gewidmet ist, handelt nicht von der Kunst des schnellen Fingers auf dem Auslöser, sondern von unbändiger Geduld im Strom der Zeit.

„Timescapes“ nennt Michael Ruetz eine 1966 begonnene Serie von Aufnahmen, die ein gigantisches, sich aus Dokumentation und Archivierung zusammensetzendes Kunstwerk ergeben, das 2023, nach fast 60 Jahren, zu einem Abschluss gekommen ist. Die........

© Berliner Zeitung


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