In Deutschland wurde 2023 so viel gearbeitet wie noch nie, zeigt eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): 55 Milliarden Stunden im Jahr 2023 gegen 52 Milliarden Stunden im Jahr 1991.

Für Finanzminister Christian Lindner (FDP) ist das trotzdem zu wenig. Andere Länder würden „mehr arbeiten als wir“, versucht er uns seit Monaten bei jedem Anlass ins Gewissen zu reden. Das Problem der deutschen Wirtschaft ist aus seiner Sicht ein Defizit an geleisteten Arbeitsstunden pro Person. Deswegen will Lindner die Überstundenkultur fördern und ausländische Arbeitskräfte mit Steuerentlastungen anlocken – damit sie den „faulen“ Deutschen wohl zeigen, wie man arbeitet.

Fakt ist: Die Gesamtanzahl von Arbeitsstunden ist in Deutschland laut der DIW-Studie gestiegen, weil immer mehr Frauen arbeiten gehen. Dabei ist fast die Hälfte der Frauen gerade teilzeitbeschäftigt, obwohl viele gerne mehr arbeiten würden. Der höhere Anteil solcher Frauen an der Gesamtstatistik führt dazu, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit aller Beschäftigten sinkt.

Zahlen zu Arbeitsstunden sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, warnen mehrere Experten, darunter der Leiter des Forschungsbereichs Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analyse am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, Prof. Dr. Enzo Weber. „Je mehr Frauen in einem Land erwerbstätig sind, desto geringer ist die Arbeitszeit pro Beschäftigten“, sagte Weber der Berliner Zeitung. Aber das heiße nicht, dass dort weniger gearbeitet werde. Überstunden sind zudem nicht die Ausnahme, sondern die Regel, vor allem die unbezahlten. Entscheidend sind am Ende jedoch nicht die abgesessenen Stunden, sondern die Produktivität. Wie wäre es damit, mehr Produktivität in Deutschland zu fördern, Herr Lindner?

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Aber zurück zu den Frauen. Die DIW-Studie zeigt, dass die Unterbeschäftigung bei Frauen steigt, wenn sie Kinder haben. Bedeutet das aber, dass sie weniger arbeiten? Nein, denn Kinderbetreuung ist auch Arbeit. Frauen in Deutschland leisten jährlich 72 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit für Familie, Pflege und Haushalt – deutlich mehr als Männer, zeigte eine Studie des Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos vom Februar dieses Jahres.

Um diese Frauen für mehr bezahlte Arbeit zu gewinnen, muss die Politik laut DIW-Forschern Elternzeitregelungen für Väter unterstützen und zusätzliche Kitaplätze schaffen. Und hier scheitert die Ampelregierung bisher massiv. Rund 430.000 Kitaplätze fehlen derzeit in Deutschland, geht aus dem Länderreport Frühkindliche Bildung 2023 der Bertelsmann-Stiftung hervor. Im Osten sei eine Fachkraft für zu viele Kinder zuständig, heißt es.

Es bräuchte zusätzlich knapp 111.200 Fachkräfte, um die Betreuungswünsche von Eltern – Arbeitnehmern und Steuerzahlern – zu erfüllen. In den meisten Fällen die von Frauen also. Dass weniger als die Hälfte der geflüchteten Frauen, auch aus der Ukraine, derzeit einer bezahlten Arbeit nachgehen, liegt ebenfalls an der Kinderbetreuung und Haushaltsarbeit. Und dass der Kitaausbau stockt, ist letztlich nicht nur den Bundesländern, sondern auch Finanzminister Lindner und seiner totalen Sparpolitik zu verdanken.

Vielerorts suchen Frauen schon nervös nach Kitaplätzen, sobald sie schwanger werden. Die Verbindung von Kind und Karriere wird uns jedenfalls nicht leichter gemacht. Und dann wundert sich die Politik, dass die Geburtenrate hierzulande kontinuierlich sinkt oder die Schwangerschaftsabbrüche auf einem Höchststand seit 2012 sind. Man merkt irgendwie schon, dass Herr Lindner selbst noch keine Kinder hat, wenn er diese Zusammenhänge nicht versteht. Die Schulden von heute seien die Steuererhöhungen von morgen, sagt er stattdessen. Eins soll er schon verstehen: Die Kinder von heute sind die Steuerzahler von morgen.

Schulden von heute sind ja die Steuererhöhungen von morgen.

QOSHE - Frauen arbeiten in Deutschland zu wenig? Was Christian Lindner nicht versteht - Liudmila Kotlyarova
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Frauen arbeiten in Deutschland zu wenig? Was Christian Lindner nicht versteht

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28.04.2024

In Deutschland wurde 2023 so viel gearbeitet wie noch nie, zeigt eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): 55 Milliarden Stunden im Jahr 2023 gegen 52 Milliarden Stunden im Jahr 1991.

Für Finanzminister Christian Lindner (FDP) ist das trotzdem zu wenig. Andere Länder würden „mehr arbeiten als wir“, versucht er uns seit Monaten bei jedem Anlass ins Gewissen zu reden. Das Problem der deutschen Wirtschaft ist aus seiner Sicht ein Defizit an geleisteten Arbeitsstunden pro Person. Deswegen will Lindner die Überstundenkultur fördern und ausländische Arbeitskräfte mit Steuerentlastungen anlocken – damit sie den „faulen“ Deutschen wohl zeigen, wie man arbeitet.

Fakt ist: Die Gesamtanzahl von Arbeitsstunden ist in Deutschland laut der DIW-Studie gestiegen, weil immer mehr Frauen arbeiten gehen. Dabei ist fast die Hälfte der Frauen gerade teilzeitbeschäftigt, obwohl viele gerne mehr arbeiten würden. Der höhere Anteil solcher Frauen an der Gesamtstatistik führt dazu, dass........

© Berliner Zeitung


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