Ein deutscher Herr, genannt Lao Wei, mietet eine Wohnung in Shenzhen. Sein Hochhaus steht zwischen vielen anderen in der sehr jungen 20-Millionen-Stadt in Ufernähe, sodass Naturfreund Lao Wei einen schönen Blick auf die Bucht und einen Fischereihafen hat. Am Horizont erhebt sich Hongkong. Macau ist auch nicht weit.

Die Nachbarn sind ausnahmslos Chinesen. In Shenzhen leben kaum Europäer, sondern zu Hunderttausenden die Mitarbeiter solcher Technologiegiganten wie Huawei und jene, die deren Leben mit ihren Dienstleistungen am Laufen halten.

Lao Wei heißt eigentlich Bernhard Weßling, kommt aus dem Ruhrgebiet, ist Jahrgang 1951, promovierter Chemiker, Unternehmer, Erfinder, Inhaber von etwa 30 Patenten. Nebenbei ist er Kranichforscher und – ganz wichtig: Fußballtorwart, weil man ein gesundheitsförderndes Hobby zum Stressausgleich braucht. Das sind wichtige Details, denn sie erklären viel über Lao Wei: Warum und wie er 13 Jahre lang in China lebte, wie er zu seinem chinesischen Namen kam und wieso er als Unternehmer ein herausragendes Buch schreiben konnte. Es heißt „Mein Sprung ins kalte Wasser. Mit offenen Augen und Ohren in China leben und arbeiten“.

Es ragt aus den zahlreichen jüngeren deutschen China-Erklärbüchern heraus. Diese stellen einerseits mehr oder weniger sachlich zusammen, was man zum Megathema „Chinesisches Jahrhundert“, „Neue Supermacht“ und dergleichen sagen kann; andererseits legen sie aus der Perspektive des Linienrichters bevorzugt den Schwerpunkt auf die üblichen Angstthemen Handelskrieg, Überwachungsstaat, Taiwan, Uiguren.

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28.02.2024

Weßling bietet weder einen Reiseführer noch einen China-Ratgeber noch völkerkundliche Plaudereien, und schon gar nicht politisch-korrekt-kritische Anbiederung an den chinaskeptischen Zeitgeist – auch keine banalen, klischeebefüllten Sprüche über „die Chinesen“ und ihre vermeintlich skurrilen Eigenheiten.

Er erzählt von einzelnen, realen Menschen, Kollegen, Nachbarn, Freunden, von Ärzten, Friseuren, Müttern, Vätern, Großeltern. Der Autor hat in Parks vogelvernarrte Rentner, Sängerinnen und auf der Straße eine leseverrückte Obsthändlerin getroffen. Natürlich lernen wir seine chinesischen Geschäftspartner kennen und deren mehr oder weniger smarte Praktiken. Und da sind die Lehrerinnen, mit denen er an Wochenenden beharrlich Mandarin-Chinesisch lernte. Eine ganze Welt normaler Leute.

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Die Kommunistische Partei Chinas taucht auf den 400 Seiten allenfalls schattenhaft auf. Trotzdem ist das Buch nicht unpolitisch. Aber die Politik, die Machtverhältnisse, Strukturen, Abläufe werden aus dem Leben heraus – gewissermaßen von unten nach oben – erklärt. Man erfährt, was die Leute aus den ihnen gegebenen Umständen machen, statt die Vorgaben aufzuzählen. Das zu lebendig zu schildern – und Eberhard Weßling ist ein erzählerisches Talent –, vermag nur einer, der nicht wie ein Fallschirmspringer landet und kurz verweilt, sondern sich unerschrocken und neugierig auf das ihm zunächst fremde Leben einlässt.

Als Mittfünfziger hatte er einen ernsthaften Grund für die Verlegung seines Lebensmittelpunktes nach China: Er musste seine Firma retten, und zwar dort, wo in der Leiterplattenindustrie die Kunden seiner Produkte saßen. Wir haben es also nicht mit einem Aussteiger zu tun, der Erbauung im „exotischen Asien“ sucht, sondern mit einem Volleinsteiger ins knallharte China-Geschäft – mit seiner Erfindung, einem Verfahren zum Einsatz leitfähiger Polymere für Leiterplattenoberflächen.

Er gründete in China ein eigenes Unternehmen, sprang ins sprichwörtliche kalte Wasser, fühlte sich dort offenkundig wohl wie das Fischlein im Frischwasserstrom und fand Schwärme, die ihn freundlich aufnahmen. Von Ausländerzirkeln, die sich nach erledigtem Tagesgeschäft in eigene Quartiere zurückziehen, hält Weßling gar nichts.

Womit wir wieder beim Thema Freizeitfußball wären. Ein Torwart braucht eine Mannschaft. Weßling kannte keine, Vereine gab es nicht. Er kaufte eine Torhüterausrüstung und stellte sich an einen der Rasenplätze in der Stadt, wo sich mittelalte Hobbykicker trafen, Teams aufstellten und spielten – selbstorganisiert, ohne Apparat oder Vereinsvorstand. Allerdings auch ohne Duschen und Umkleiden. Als hätten sie auf einen passablen Torwart gewartet, war die Langnase sofort dabei.

Bald fand er ein Team auf Dauer, die Lao Niu (Alte Bullen). Beim Ablöschen mit Bier nach der Rennerei machten die Sportsfreunde aus Weßling (selbst Wèi Si Lín klang ihnen zu Deutsch, zu schwierig) kurz Wei, und da der Herr älter war, kam Lao dazu – alt. Lao Wei, der alte Wei. Obendrein ist Wei das chinesische Wort für Hüter. Passt.

Wei lernt im Laufe der Jahre das Leben der anderen kennen. Das ergibt Geschichten! Solche vom Glück der Geselligkeit (gerne feuchtfröhlich), von den Wundern der chinesischen Küche, von der universellen Freude an Bewegung. Wir erfahren, wie Fußballkumpel Liao Qiang reich wird, weil seine Geschäftsidee (Fußbodenreiniger für Hochreinräume) einschlägt. Als Trainer tritt ein Koreaner auf, der sein Geld als Reishändler verdient. Ein großes soziales Spektrum.

Zum Fußballplatz fährt Weßling mit dem Fahrrad – am Wegesrand entwickelt sich die langjährige Beziehung zu Handwerker Wang, der ihm nicht nur die Kette spannt, sondern auch mal – nach einem Sportunfall – Erste Hilfe leistet, vom Eis für das geschwollene Bein bis zum kühlen Bier für die Seele.

Die Verletzung zwingt das Sportopfer ins Krankenhaus – und dort wird es richtig spannend: Hat man schon zuvor, ganz beiläufig, Einblicke ins innere Funktionieren des sich selbst organisierenden Serviceparadieses Shenzhen bekommen, öffnet sich nun die Welt des Gesundheitswesens. So lebensnah hat man das auf Deutsch noch nicht gelesen.

Wie gelangt man an den Arzt? Wie wird wer bezahlt für welche medizinische Leistung? China ist kein Sozialstaat. Auf die Allgegenwart einer für alles und jedes zahlenden Solidargemeinschaft kann man nicht setzen. Die Leute wissen, was Eigenverantwortung bedeutet. Als beim nächsten, noch schwereren Sportunfall Lao Wei zum Kopf-CT muss, zahlt der Foulspieler ohne Murren. Andererseits durchzieht Solidarität, ein selbstverständliches Wir-Gefühl alle Lebensbereiche, wirkt als sozialer Kitt.

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Wir begegnen den schwulen Friseure des bevorzugten Salons. Oder Bauer Song, der eigentlich kein Bauer mehr ist, sondern Apartmentvermieter. Er hat auf dem Land, das er einst bepflanzte, Häuser gebaut, vermietet, ist reich und bleibt trotzdem bei seiner einzigen, vom Leben gezeichneten Lederjacke.

Wir lesen von fleißigen Chinesen und von faulen, von dummen und klugen, von Männern, die mit attraktiven, selbstbewussten, erfolgreichen Frauen ein Problem haben, und von Frauen, die sich mit der Frage der Partner- und Mutterschaft plagen. Oder von einem lesbischen Paar – nichts Außergewöhnliches.

Wir lernen Sun Li kennen, die als junge, hoch qualifizierte Frau seine erste Mitarbeiterin wurde – und die wichtigste. Sie bekam eine Tochter, hatte die Beziehungen zu Eltern und Schwiegereltern zu regeln (heikel, heikel). Und sie hat Freundinnen mit eigenen Netzwerken.

Diese Methode, von Partnersuche, Familienverhältnissen, Bildungskarrieren, Privatsphäre, Konventionen und ihrem Wandel – kurz der Organisation des Lebens im Kleinen – zu erzählen: Das macht den größten Charme des Buches aus. Weßling nähert sich den Menschen vorurteilsfrei und voller Empathie. Offenbar funktioniert das Miteinander zwischen den Hochhausschluchten, die von Ferne betrachtet wie anonyme Betonquartiere erscheinen, ähnlich denen intakter Dorfgemeinschaften. Heimische Erfahrungen einfach auf Verhältnisse anderswo zu übertragen, kann in Fallen führen. Weßling meidet sie. Er schreibt, was er selbst gesehen, erlebt, erfahren hat.

Besonders intensiv wird Weßling immer dann, wenn er zur Erhellung chinesischer Besonderheiten Wissen aus den Tiefen der Jahrtausende nach oben befördert: zum Beispiel die wunderbaren Gleichnisse, Sprichwörter, Weisheiten, genannt Cheng Yu. Noch besser: die 36 Strategeme. Das sind Listen, man könnte auch sagen Verhandlungs- oder Geschäftsverfahren, die man kennen sollte, wenn man sich auf China-Business einlässt. Sie basieren auf uralten Kriegsstrategien und werden schon von Kindern erlernt.

Zum Beispiel Strategem Nummer 6: „Im Osten lärmen, im Westen angreifen.“ Also Ablenkungsmanöver einleiten, um die Chancen einer eigenen Aktion zu steigern. Oder Strategem 15: „Den Tiger vom Berg in die Ebene locken“, ihn also von vertrautem Gelände in ein Gebiet locken, in dem er sich nicht auskennt. Strategem 19 rät: „Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen.“ So entschärft man Konflikte, es gilt das Brennholz zu erkennen. Herrlich, diese uralte Schläue.

Unter der Kapitelüberschrift „Handelskrieg der USA gegen China“ liefert der China-Kenner geballte Einsichten. Und zu guter Letzt kommt eine bündige Auseinandersetzung mit „merkwürdigen Feststellungen in Büchern und Artikeln über China“. Stück um Stück zerlegt Weßling ausgelatschte Klischees wie das von den „chinesischen Ameisen“, Tand-Produzenten oder notorischen Betrügern.

Auch zum Haupt- und Staatsthema Menschenrechte (das jedem, der nie in China war, sofort einfällt) hat Weßling etwas zu sagen: Er räumt ein, dass die „große Politik“ im Alltag weniger kritisiert wird, „dazu sind die Chinesen durchweg ihrem Land gegenüber zu loyal“, Politik interessiere sie „deutlich weniger als uns“.

Gleichwohl: „Information und Diskussion ist in China in sehr viel breiterem Maße verfügbar und freier, als dies in westlichen Medien dargestellt wird.“ Offizielle Zeitungen und Nachrichten, also das, was der westliche Besucher wahrnimmt, seien nur ein „erstaunlich kleiner“ Ausschnitt der chinesischen Medienwirklichkeit. In Blogs, auf allen möglichen Nachrichten- und in sozialen Netzwerk-Websites werde „auf eine Weise frei, offen und kritisch diskutiert, wie sie bei uns nicht bekannt ist“.

Die verzerrte Darstellung chinesischer Wirklichkeit wird offenkundig nicht nur von der Führung der Kommunistischen Partei oder von Botschaften beklagt, sondern auch von der Öffentlichkeit. Die letzten Seiten seines Buches überlässt Bernhard Weßling dem „Gedicht für den Westen: Was wollt ihr denn wirklich von uns?“, das er in einem Internet-Forum fand. Jede Zeile spricht Bände. Hier nur ein paar Beispiele:

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„Als wir der kranke Mann Asiens waren, nanntet ihr uns die, ‚gelbe Gefahr‘. Als es hieß, dass wir die nächste Supermacht sein werden, waren wir eine Bedrohung.

Als wir es mit dem Kommunismus versucht haben, habt ihr uns gehasst, weil wir Kommunisten waren. Als wir den Kapitalismus für uns entdeckten, habt ihr uns gehasst, weil wir Kapitalisten wurden.

Als wir Öl gekauft haben, habt ihr es Ausbeutung und Völkermord genannt. Als IHR in den Krieg um Öl gezogen seid, war es ein Kampf für Freiheit.

Als unser Land im Chaos versank, rieft ihr nach den Gesetzen. Als wir die Gesetze und Ordnung wiederherstellten, war es eine Menschenrechtsverletzung.

Wir sind gehirngewaschene Fremdenhasser, hieß es. ‚Warum hasst ihr uns nur so sehr?‘, fragen wir euch. ‚Nein‘, sagt ihr. ‚Wir hassen euch doch gar nicht.‘ Wir hassen euch auch nicht. Aber versteht ihr uns? ‚Aber natürlich verstehen wird euch‘, sagt ihr, ‚Wir haben doch die ARD, das ZDF und den Spiegel‘.“

Da wird uns, den Deutschen, der Spiegel vorgehalten! Aber jetzt haben wir auch einen Löffel Gegengift. Es heißt Lao Wei.

QOSHE - Der gute Blick auf Chinas wahres Leben: 13 Jahre als Deutscher unter Chinesen - Maritta Adam-Tkalec
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Der gute Blick auf Chinas wahres Leben: 13 Jahre als Deutscher unter Chinesen

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03.03.2024

Ein deutscher Herr, genannt Lao Wei, mietet eine Wohnung in Shenzhen. Sein Hochhaus steht zwischen vielen anderen in der sehr jungen 20-Millionen-Stadt in Ufernähe, sodass Naturfreund Lao Wei einen schönen Blick auf die Bucht und einen Fischereihafen hat. Am Horizont erhebt sich Hongkong. Macau ist auch nicht weit.

Die Nachbarn sind ausnahmslos Chinesen. In Shenzhen leben kaum Europäer, sondern zu Hunderttausenden die Mitarbeiter solcher Technologiegiganten wie Huawei und jene, die deren Leben mit ihren Dienstleistungen am Laufen halten.

Lao Wei heißt eigentlich Bernhard Weßling, kommt aus dem Ruhrgebiet, ist Jahrgang 1951, promovierter Chemiker, Unternehmer, Erfinder, Inhaber von etwa 30 Patenten. Nebenbei ist er Kranichforscher und – ganz wichtig: Fußballtorwart, weil man ein gesundheitsförderndes Hobby zum Stressausgleich braucht. Das sind wichtige Details, denn sie erklären viel über Lao Wei: Warum und wie er 13 Jahre lang in China lebte, wie er zu seinem chinesischen Namen kam und wieso er als Unternehmer ein herausragendes Buch schreiben konnte. Es heißt „Mein Sprung ins kalte Wasser. Mit offenen Augen und Ohren in China leben und arbeiten“.

Es ragt aus den zahlreichen jüngeren deutschen China-Erklärbüchern heraus. Diese stellen einerseits mehr oder weniger sachlich zusammen, was man zum Megathema „Chinesisches Jahrhundert“, „Neue Supermacht“ und dergleichen sagen kann; andererseits legen sie aus der Perspektive des Linienrichters bevorzugt den Schwerpunkt auf die üblichen Angstthemen Handelskrieg, Überwachungsstaat, Taiwan, Uiguren.

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Weßling bietet weder einen Reiseführer noch einen China-Ratgeber noch völkerkundliche Plaudereien, und schon gar nicht politisch-korrekt-kritische Anbiederung an den chinaskeptischen Zeitgeist – auch keine banalen, klischeebefüllten Sprüche über „die Chinesen“ und ihre vermeintlich skurrilen Eigenheiten.

Er erzählt von einzelnen, realen Menschen, Kollegen, Nachbarn, Freunden, von Ärzten, Friseuren, Müttern, Vätern, Großeltern. Der Autor hat in Parks vogelvernarrte Rentner, Sängerinnen und auf der Straße eine leseverrückte Obsthändlerin getroffen. Natürlich lernen wir seine chinesischen Geschäftspartner kennen und deren mehr oder weniger smarte Praktiken. Und da sind die Lehrerinnen, mit denen er an Wochenenden beharrlich Mandarin-Chinesisch lernte. Eine ganze Welt normaler Leute.

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Die Kommunistische Partei Chinas taucht auf den 400 Seiten allenfalls schattenhaft auf. Trotzdem ist das Buch nicht unpolitisch. Aber die Politik, die Machtverhältnisse, Strukturen, Abläufe werden aus dem Leben heraus – gewissermaßen von unten nach oben – erklärt. Man erfährt, was die Leute aus den ihnen gegebenen Umständen machen, statt........

© Berliner Zeitung


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