Im Nikolaiviertel etabliert sich das Berliner Stadtmuseum mit gestärkter Präsenz. Das Museum hatte dort schon lange mit Nikolaikirche, Knoblauchhaus und Ephraim-Palais drei Außenstellen – doch nun befindet sich in Letzterem, dem prächtigsten Bürgerhaus Berlins, das Zentrum der Institution: die Dauerausstellung „BerlinZeit“, der inhaltliche Kern des Stadtmuseums, in vollständig überarbeiteter, kompakter, moderner, attraktiver Form.

Besucher können sich in einem ein- bis zweistündigen Rundgang über 800 Jahre Stadtgeschichte informieren, für eine halbe Stunde einen Schwerpunkt wählen (zum Beispiel das Kapitel „Geteilte Stadt“) oder sich einen ganzen Tag lang mithilfe von Multimediastationen in einzelne Abschnitte vertiefen. Wer diesen Versuch einmal unternommen hat, weiß: Je mehr man sich auf einen Aspekt einlässt, desto spannender wird es.

300 sorgfältig ausgewählte Objekte sind zu sehen, etwa die Hälfte davon kennt man nicht aus der bisherigen Ausstellung, sodass auch Fans und Kenner des Märkischen Museums viel Neues zu sehen bekommen.

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19.01.2024

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Jedenfalls ist man im Nikolaiviertel am richtigen Ort, um die Reise in die Vergangenheit zu starten und ausklingen zu lassen – umgeben von Alt-Berliner Häusern, historisch angepassten Plattenbauten aus den 1980er-Jahren und dem ältesten intakten Kirchenbauwerk der Stadt, die Nikolaikirche. Alt und Neu – alles beieinander, Museum draußen, Geschichtserzählung drinnen.

Die Ausstellung „BerlinZeit“ trägt nun den Zusatz „Die Stadt macht Geschichte“. Das Märkische Museum am Köllnischen Park wird bis 2028 generalsaniert. Der Umzug bedeutete zwangsläufig räumliche Verkleinerung, und Kurator Gernot Schaulinski hat die Gelegenheit genutzt, die Reduktion durch Originalität pointierter zu gestalten. Natürlich fehlt nun manches, so fand das Original der mehr als 700 Jahre alten Schöffenbank aus der Gerichtslaube keinen Platz – allerdings kann man sie in einer der Multimediastationen finden.

Neuigkeiten erwarten das Publikum gleich beim Start im zweiten Stockwerk im „Prolog“ genannten Orientierungsraum, zum Beispiel eine eiserne Kloschüssel aus der Zeit um 1900 – die Berliner Antwort auf das britische Porzellanmodell: Berlin wählte Gusseisen. Neben dem Stadtmodell von 1750 steht das große eiserne Vorhängeschloss, mit dem die Wachposten einst nachts das alte Brandenburger Tor, den Vorläufer des weltbekannten Langhansbaus, verschlossen.

Die neue Ausstellung ist stärker verdichtet als ihre Vorgängerin und öffnet den Blick von der Stadtgründung bis heute in viele, für gewöhnlich verborgene Stadtschichten und Stadtgeschichten. Nicht zuletzt zeigt sie, an angemessenen Stellen, hintergründigen Humor. Da hocken zum Beispiel im ersten Raum, der auf den Rundgang einstimmt, zwei ordinäre Berliner Stadttauben und eine Krähe über der „BerlinZeit“-Leuchtschrift. Ja, auch sie sind Stadtbewohner – nicht zu wenige, nicht die beliebtesten.

Neben dem bekannten hölzernen Stadtmodell, das Berlin um 1750 zeigt, lädt eine „Duftstation“ ein, die Nase über einen Eintopf aus jener Zeit oder über einen Nachttopf zu halten. Mithilfe der Multimediastation begegnen Besucher den „Kaufrufern“, Berliner Frauen und Männern, die durch die Straßen liefen und ihre Waren – zum Beispiel Limburger Käse – anpriesen. Bald wird man diese Typen auch hören können, wenn Töne die Multimediastation ergänzen. So entsteht ein Stadtbild jener Zeit, das mit allen Sinnen wahrnehmbar wird.

Objektkombinationen regen zum Denken in gegensätzlichen Perspektiven an: So steht zum Beispiel die brutal anmutende eiserne Schandmaske mit Teufelsgesicht und Eselsohren, die Menschen zur öffentlichen Demütigung im 17. Jahrhundert als Strafe tragen mussten, neben einem goldenen Himmelsglobus, der wissenschaftliches Streben aus derselben Zeit dokumentiert.

Die Texte sind generell kurz gehalten, langes Lesen von Tafeln entfällt. Vielmehr sollen die Besucher über unkonventionelle Zugänge und unterhaltsame Elemente die Vielschichtigkeit der Geschichte selbst erschließen. Es fällt beim Gang durch die Zeit-Räume bald auf, dass bisher unbekannte Menschen ins Licht gerückt werden.

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Schaulinski will nicht mehr nur die üblichen „Macher“ zeigen, also die Personen, die Berlin maßgeblich geprägt haben, sondern gesteht dem normalen Leben in der Stadt seinen Auftritt zu. Dieses Leben bestand schon immer aus weit mehr als wohlhabenden Männern. 80 Prozent nahmen sie in der bisherigen Ausstellung ein – jetzt sind Frauen mit 60 Prozent in der Mehrzahl. Ist das realistischer? Schaulinski erklärt: „Wir wollen neue Leute erreichen.“ Auf jeden Fall lernt der Besucher auf diese Weise Leute kennen, die ihm bisher nicht vorgestellt worden sind. Und siehe da: Das stellt sich als schöner Gewinn heraus.

Kannten Sie schon Dr. Katherina Heinroth (1897–1989)? Die Zoologin, die nach dem Zweiten Weltkrieg verhinderte, dass das Gelände vom Zoologischen Garten zum Gemüsefeld gemacht wurde, die bei der britischen Besatzungsmacht die Zusage erkämpfte, den Zoo zu erhalten und wiederaufzubauen. Von 1945 bis 1956 war sie Direktorin der Einrichtung – die erste Zoodirektorin Deutschlands. Ihr Ost-Berliner Kollege Prof. Heinrich Dathe, legendärer Tierparkdirektor, nannte sie „Katharina die Einzige“. Allerdings, so erzählt Gernot Schaulinski, ertrugen es ihre männlichen Kollegen nicht und tratschten herum, sie könne „im Ton“ nicht mit Männern mithalten, und sägten sie schließlich ab. Katharina Heinroth vertritt im Zeitabschnitt „Frontstadt und Bau auf“ den Westen.

Und wer ist die Person, die für den Osten steht? Die Wahl fiel auf Toni Ebel, 1881 in Berlin als Mann geboren, ließ sie 1930 eine Geschlechtsumwandlung durchführen und musste 1934 mit ihrer jüdischen Partnerin ins Exil gehen. 1945 kehrten beide zurück – sie entschieden sich für Ost-Berlin. Die DDR erkannte Toni Ebel als Opfer des Faschismus an, zahlte ihr eine entsprechende Ehrenrente. Als Malerin kam sie zu einiger Bekanntheit, zum 75. Geburtstag präsentierte sie 1956 eine Einzelausstellung. Ihr Geschlechtswechsel war allgemein bekannt und niemand störte sich daran.

Keine Frage: Im Ephraim-Palais wartet die völlig überarbeitete Darstellung Berlins mit knappen deutschen, englischen und einigen türkischen Erklärungstexten, biografisch und alltagsgeschichtlich bereichert auf Familien, Pärchen, Schulklassen und Touristen. „Wir wollten für einzelne Zeitabschnitte Miniaturen schaffen, kleine Geschichten erzählen“, sagt Schaulinski, „Aspekte abseits der üblichen Erzählung anbieten.“ Als Bezugspunkt dient jeweils ein bestimmtes Jahr – 1680 für den Beginn der Zuwanderung (von Hugenotten und Juden); 1701, das Jahr, in dem sich der erste Preußenkönig die Krone selbst aufs Haupt setzte, steht für den Absolutismus.

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Im Kapitel „Stadtgründung“ tritt eine fiktive Siedlerin auf und wir lernen: Das Jahr 1180 könnte nach neueren Erkenntnissen als Jahr der Stadtgründung angesehen werden. Eine auf der Museumsinsel geborgene Eichenbohle eines Fachwerkhauses wurde untersucht und zweifellos um 1180 gefällt.

Für die unruhigen Zeiten Anfang des 16. Jahrhunderts steht eine vermeintliche Wetterhexe, der die Schuld an einem Blitzeinschlag in die Nikolaikirche zugeschoben wurde, und aus dem Dreißigjährigen Krieg berichtet ein schwedischer Soldat, der im Heerlager vor Berlin lag. Für die 1990er-Jahre, ein besonders heikler Abschnitt für die Geschichtsdarstellung, rettet sich die Ausstellung in ein Zeitzeugenprojekt – so ist die Vielfalt der Sichtweisen gesichert.

In vielen Räumen lässt die Ausstellung Platz für Neues, Ergänzendes – die sogenannten Freistellen wird nach den Vorstellungen des Kurators die Berliner Stadtgesellschaft füllen. Ideen und Projekte können eingereicht werden, eine Jury wählt aus.

Noch findet das Publikum nicht in großer Zahl zur „veritablen Neuproduktion“ (so der Kurator) im Ephraim-Palais. Bisher erwartete man an diesem Ort eher Sonderausstellungen – nicht aber die Gesamterzählung der Berliner Geschichte. Für den Besuch aller drei Häuser im Histo-Hotspot Berlins, dem Nikolaiviertel, gibt es ein Kombiticket.

Was aber wird der Star der neuen Schau? Der Rundgang ergibt einige Kandidaten: Da ist Pitty, der erste DDR-Elektroroller, gebaut in Ludwigsfelde, ein derart robustes Exemplar, dass man sogar für ein cooles Foto draufsteigen kann. Für Personen mit Faible für Alltagskultur wie mich kommt die Trockenhaube Windsbraut infrage. Gernot Schaulinski räumt nach einigem Grübeln dem prächtigen Kleid den Platz der Diva ein, das für den West-Berliner Tuntenball 1975 angefertigt wurde, eine wahrhafte Prachtrobe.

Auch der kurze Film aus dem Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit beeindruckt – genauer gesagt: Er erschüttert. Die Bilder wurden aufgenommen im Tiefflug vom Brandenburger Tor über die trostlosen Trümmerzeilen, die den Boulevard Unter den Linden säumten. Ein ganz heißer Kandidat steht ganz am Schluss, eine Spielerei mit Künstlicher Intelligenz. Über einen Touchscreen kombiniert man individuelle Vorstellungen vom Berlin der Zukunft, je nach Vorliebe – mit mehr oder weniger Spuren historischer Gebäude. Heraus kommen Postkartenansichten – auch zum Mitnehmen.

QOSHE - Neu im Nikolaiviertel: 800 Jahre Berlin mit allen Sinnen - Maritta Adam-Tkalec
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Neu im Nikolaiviertel: 800 Jahre Berlin mit allen Sinnen

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21.01.2024

Im Nikolaiviertel etabliert sich das Berliner Stadtmuseum mit gestärkter Präsenz. Das Museum hatte dort schon lange mit Nikolaikirche, Knoblauchhaus und Ephraim-Palais drei Außenstellen – doch nun befindet sich in Letzterem, dem prächtigsten Bürgerhaus Berlins, das Zentrum der Institution: die Dauerausstellung „BerlinZeit“, der inhaltliche Kern des Stadtmuseums, in vollständig überarbeiteter, kompakter, moderner, attraktiver Form.

Besucher können sich in einem ein- bis zweistündigen Rundgang über 800 Jahre Stadtgeschichte informieren, für eine halbe Stunde einen Schwerpunkt wählen (zum Beispiel das Kapitel „Geteilte Stadt“) oder sich einen ganzen Tag lang mithilfe von Multimediastationen in einzelne Abschnitte vertiefen. Wer diesen Versuch einmal unternommen hat, weiß: Je mehr man sich auf einen Aspekt einlässt, desto spannender wird es.

300 sorgfältig ausgewählte Objekte sind zu sehen, etwa die Hälfte davon kennt man nicht aus der bisherigen Ausstellung, sodass auch Fans und Kenner des Märkischen Museums viel Neues zu sehen bekommen.

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Jedenfalls ist man im Nikolaiviertel am richtigen Ort, um die Reise in die Vergangenheit zu starten und ausklingen zu lassen – umgeben von Alt-Berliner Häusern, historisch angepassten Plattenbauten aus den 1980er-Jahren und dem ältesten intakten Kirchenbauwerk der Stadt, die Nikolaikirche. Alt und Neu – alles beieinander, Museum draußen, Geschichtserzählung drinnen.

Die Ausstellung „BerlinZeit“ trägt nun den Zusatz „Die Stadt macht Geschichte“. Das Märkische Museum am Köllnischen Park wird bis 2028 generalsaniert. Der Umzug bedeutete zwangsläufig räumliche Verkleinerung, und Kurator Gernot Schaulinski hat die Gelegenheit genutzt, die Reduktion durch Originalität pointierter zu gestalten. Natürlich fehlt nun manches, so fand das Original der mehr als 700 Jahre alten Schöffenbank aus der Gerichtslaube keinen Platz – allerdings kann man sie in einer der Multimediastationen finden.

Neuigkeiten erwarten das Publikum gleich beim Start im zweiten Stockwerk im „Prolog“ genannten Orientierungsraum, zum Beispiel eine eiserne Kloschüssel aus der Zeit um 1900 – die Berliner Antwort auf das britische Porzellanmodell: Berlin wählte Gusseisen. Neben dem Stadtmodell von 1750 steht das große eiserne Vorhängeschloss, mit dem die Wachposten einst nachts das alte........

© Berliner Zeitung


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