Obsessiv überzeugt von der eigenen Überlegenheit, instabil, weil allein auf der Basis dieses Überlegenheitsgefühls handelnd, und gleichgültig gegenüber der Realität – auf wen treffen diese drei Merkmale zu? Man lasse den Scheinwerfer über die deutsche Szenerie streifen. Grün? Rot? Gelb? Schwarz? Blau oder bunt? Die Beschreibung trifft auf erstaunlich viele Akteure links wie rechts zu (männlich, weiblich, divers), und diese sind zu finden unter Rassisten wie auch Antirassisten; unter Umvolkungsfantasierern von der AfD wie Flüchtlingsrettern im Mittelmeer; Klimaleugnern wie Trans- und Schwulenhassern. Überall Neo-Autoritäre.

George Orwell (1903–1950), hellsichtiger Meister der Gesellschaftsanalyse, sah 1945 die Kraft vor sich, die die Welt gerade in den Abgrund geführt hatte – den deutschen Nationalismus. Dessen Kämpfer hatten obsessiv die Überlegenheit ihrer Nation propagiert und den großen Krieg begonnen – unversöhnlich, selbstbezogen, aufklärungsresistent, moralisch verpanzert, autoritär und taub für störende Argumente. Orwell entdeckte, dass all diese Merkmale durchaus nicht nur auf Nationalisten zutreffen. Vom eigenen Wert überzeugte Intellektuelle hält er für besonders verführbar.

George Orwell ist heute weltbekannt wegen seiner Werke „Farm der Tiere“ (1945) und „1984“ von 1949. Sie beschreiben, wie Gesellschaften unter lockenden Losungen ins Schreckliche driften. Jedoch fand sein 1945 veröffentlichter Essay „Über Nationalismus“ wenig Beachtung. Auf Deutsch erschien er erst 2020, und selbst zu dieser Zeit blieben Aktualität und Brisanz unerkannt. Womöglich irritierte Orwells weit gefasster Begriff vom Nationalismus.

Er transponiert ihn nämlich über das große (obsessiv von sich selbst überzeugte, instabile, realitätsferne) Volkskollektiv Nation hinaus auf weitere Gruppen mit verblendeter Geisteshaltung und exklusiven, autoritären Denksystemen, auf Kollektive, die sich über bestimmte Kriterien definieren, daraus Zugehörigkeiten ableiten und sich von anderen abgrenzen.

13.02.2024

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16.02.2024

Er nimmt also das in den Blick, was man heute „Identitäten“ nennt. In den vergangenen Jahren hätte Orwell sicherlich Gruppen gesichtet, die ihre Identität unbedingt über ihre Hautfarbe oder ihre Geschlechtsvariante definieren wollen, die als Wokies über hohe Erkenntnis verfügen; welche, die die Einhaltung bestimmter Speiseregeln über alles stellen, und solche, die über einen gemeinsamen Opferstatus verfügen.

Die obsessive Vorstellung von der Sonderposition der eigenen Gruppe führt dazu, dass selbst das Tragen vermeintlich gruppenspezifischer Frisuren (Dreadlocks) oder Kleider (Indianer) als übergriffiger Identitätsdiebstahl gilt. Demnach soll ein Weißer nicht Otello spielen (Blackfacing) und eine Hetero-Schauspielerin keine lesbische Frau. Singt eine Schwarze Mozartarien, wird das bislang noch nicht als verwerfliche „kulturelle Aneignung“ verstanden; möglich, dass die AfD bald auf diesen Gedanken verfällt.

Grüppchen mit angemaßter exklusiver Identität haben die Gesellschaft in den vergangenen Jahren vor aller Augen fragmentiert. Nun schauen sie sich in den Relikten des Zerfallenen nach anderen Formen der Selbstvergewisserung um. Anhänger der postkolonialen Wokeness suchen derzeit in ihren Schützengräben Deckung, denn nach den Hamas-Massakern gegen Juden am 7. Oktober 2023 wird dem Eintröpfeln von Antisemitismus in Kunst und Kultur, in Universitäten, Ateliers und Theatern durch die Heerscharen sogenannter Woker wenigstens klarer widersprochen.

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„Menschen wie Insekten zu klassifizieren“ und „ganze Gruppen von Millionen und Abermillionen Menschen mit dem Etikett ,gut‘ oder ,böse‘ zu belegen“, gehört nach Orwell zu den Grundmethoden des identitären Nationalismus; hier zeigt sich besonders deutlich die Verwandtschaft mit heutigen Identitätspolitikern. Gleich den einstigen, angeblich bedrohten „Ariern“ werden Menschen mit unkritisierbaren Sonderrechten und der Aura angeblicher Überlegenheit ausgestattet: Schwarze, Frauen, LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) und andere Gruppen. Wer sich derart zum Opfer und zugleich zum moralisch überlegenen Menschen erhebt, ist im Vorteil.

Natürlich sah Orwell seinerzeit auch die klassischen Formen des Nationalismus, der alles am eigenen Land, der eigenen Nation, für unübertrefflich hält und alles andere für verabscheuungswürdig. Der Nationalist, früher wie heute, sieht im eigenen Reich die edleren Menschen, die klangvollere Sprache, die reizvollste Landschaft, die reichste Kultur, die raffinierteste Küche.

Derartiger Nationalismus lebt in britischen Brexiteers oder amerikanischen Trumpisten. Er lebt in Indien, Afghanistan oder Katalonien. In der virulenten Form haben wir es heute zu tun mit russischem und ukrainischem, palästinensischem und israelischem Nationalismus; ebenso mit dem von Identitätsverlustängsten verzehrten, sich urdeutsch dünkenden Höcke- und Pegida-Wesen.

Orwell hatte die aggressivste Form, den Nationalsozialismus erlebt, gleichsam das Extrem des Identitären, randvoll mit Vertreibungs- und Vernichtungsfantasien gegen alles, was nicht zum eigenen Kollektiv gehörte. Er verwende den Begriff „Nationalismus“ nur in Ermangelung eines besseren, schrieb er – und fasste darunter für seine Zeit auch Kommunismus, politischen Katholizismus, Antisemitismus, Zionismus, Trotzkismus oder Pazifismus. Dazu gehören natürlich auch identitäre Glaubensformen, die er noch nicht kennen konnte.

Für Antisemitismus sah Orwell 1945 übrigens „kaum Belege“. Jeder behaupte angesichts der Judenverfolgungen durch die Nazis, er sei „frei davon“. Aus allen Arten von Schrifttum würden „sorgfältig jegliche antisemitischen Bemerkungen getilgt“. Aber auch: „In Wirklichkeit ist der Antisemitismus weit verbreitet, selbst unter Intellektuellen, und das allgemeine Schweigekomplott scheint ihn nur noch zu verschärfen. Menschen mit linken Ansichten sind auch nicht immun dagegen.“ Geschrieben vor fast 80 Jahren.

Orwell war zu der Erkenntnis gekommen, dass „jeder Nationalist getrieben ist von der Überzeugung, dass sich die Vergangenheit umschreiben lässt“. Er verbringe einen Teil seiner Zeit in einer „Fantasiewelt, in der Dinge so passieren, wie sie passieren sollen“. Und dann würden Teile dieser Welt nach Möglichkeit in die Geschichtsbücher übertragen.

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„Die propagandistischen Schriften unserer Zeit kommen großteils offenen Fälschungen gleich“, schreibt er. Fakten würden unterdrückt, Daten abgeändert, Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, sodass sich der Inhalt ändere. Er führt Beispiele aus seiner Zeit an – doch was fällt einem selbst dazu ein? Nach diesem Verfahren wurde wohl auch die Darstellung der DDR verfertigt und wird heute allen Ernstes behauptet: „Rassismus ist eine Erfindung der Nordhalbkugel gegen die Südhalbkugel der Erde.“ Demnach gibt es also weder in Indien noch im Kongo irgendwelche Formen von autochthonem Rassismus.

Der Wunsch nach Vergangenheitsumschreibung steckt womöglich auch hinter dem Hang vieler Dekolonialisierungsaktivisten, Fakten zu vergessen, zu verdrehen oder zu erfinden, damit es postkolonial-feministisch-queer passt. Da wird deutscher Kolonialismus in eine Zeit hinein verschoben, in der Deutschland noch keine einzige Kolonie hatte; da werden Osman:innen imaginiert und ihnen schauerliche Schicksale angedichtet. Oder junge Dekolonialisierer:innen behaupten, sie könnten aus alten Tonaufnahmen von schwarzen Menschen heraushören, wie diese sich vor 100 Jahren gefühlt haben.

Wer an seiner Haltung und an seinen Überzeugungen klebt, ist, so Orwell, „an dem, was in der wirklichen Welt geschieht, irgendwie nicht so recht interessiert. Er will das Gefühl haben, dass seine eigene Einheit die Oberhand gewinnt.“ Sofern es also dem guten Gefühl dient, neigen Identitäre aller Spielarten dazu, das Unpassende systematisch auszublenden.

Das funktioniert heute noch besser als zu Orwells Zeiten – denn jeder kann eine mediale Blase für seine erfundene Welt finden. Vom Nationalismus unterscheidet Orwell übrigens den Patriotismus – „die Verbundenheit mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Lebensweise, die man für die beste der Welt hält, aber anderen nicht aufzwingen möchte“. Patriotismus versteht er als defensiv – Nationalismus hält er für „untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden“.

Mit seinem kleinen Werk „Über Nationalismus“ erweist Orwell sich abermals als beeindruckender Prognostiker. Doch auch an die Aktualität seiner anderen Klassiker sei noch kurz erinnert. Ihm verdanken wir Begriffe wie „Neusprech“, „Doppeldenk“, „Großer Bruder“, „Gedankenpolizei“, „Wahrheitsministerium“ – Zeugnisse einer grandiosen Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in explosive Kürze zu packen. Orwells Begriffe beziehen ihre Haltbarkeit aus der Treffsicherheit.

Sie klingen, als seien sie soeben neu erfunden für die aktuellen Debatten um unsere jüngste Vergangenheit, um Cancel Culture, Framing, Labeling, Shaming … Ist es nicht bezeichnend, dass George Orwells Werke in Belarus und Putin-Russland verboten sind? Krieg gegen die Ukraine heißt dort „militärische Spezialoperation“ – ein schönes Beispiel für Neusprech. Aber nicht nur dort hat sich unsere Realität der orwellschen Welt in großen Schritten angenähert.

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Beispiele aus dem Nahbereich: Der frühere Asylbewerber heißt Schutzsuchender, Ureinwohner sind nun Indigene. Wer einst ein Farbiger war, soll jetzt PoC heißen, ein Kürzel, das so hart und gemein klingt, dass es erst eine menschliche Anmutung bekommt, wenn man es dann doch vollständig sagt: People of Color, farbige Menschen. Was glasklar Deportation ist, soll gemäß rechtsextremer Sprachlackierung Remigration heißen. Man sieht: Auch Neusprech gibt es rechts wie links. Die Bedeutung der Begriffe ändert sich nicht; sie wird bloß verschwiemelt, ansonsten bleibt alles wie gehabt. Die Wortmagie löst kein Problem, sondern sichert dessen Fortexistenz.

Neusprech als Methode zur Manipulation beschrieb George Orwell mit Blick auf Nationalsozialismus und Stalinismus in seinem Roman „1984“ als Teil des Schreckensbildes vom totalitären Überwachungsstaat. Die politische Methode Neusprech setzt sprachliche Regeln außer Kraft, sie simplifiziert, verkleinert, amputiert das Vokabular und verdünnt das Denken. Sie zermürbt die Vernunft und höhlt die Demokratie aus. Man kann ihr zuschauen beim Einsickern in die Gesellschaft.

Orwells Fabel „Farm der Tiere“ ist 1945 erschienen. Sie erzählt, wie Tiere ihren menschlichen Besitzer, der sie vernachlässigt und ausgebeutet hat, von der Macht vertreiben. Doch schon bald setzen neue Machthaber ihre eigenen Regeln durch. Regel Nummer eins: Alles, was auf zwei Beinen geht, ist ein Feind. Sie wird ergänzt durch „Alle Tiere sind gleich“ – außer manche (nämlich die neuen Chefs, die sich auf die Hinterpfoten erheben).

80 Jahre später erklären die Woken den alten weißen Cis-Mann zum Hauptfeind. Rechtsextreme finden ihren alten Hauptfeind im „Fremden“, im (farblich erkennbaren) „Migranten“. Im Höcke-Neusprech heißen diese „lebensbejahende Ausbreitungstypen“. Juden heißen bei der AfD gerne mal „Globalisten“ und in Putins Russland „Mondialisten“. Für den linken Antisemitismus, vor allem in seiner postkolonialen Variante, ist Israel ein „weißer Siedler-Kolonialstaat“ und die Terrororganisation Hamas eine Befreiungsbewegung. Identitäre Decolonizer reden nicht von Rasse, aber stattdessen besonders gerne vom „ethnokulturellen Kollektiv“. Die Ampel-Regierung schrieb ihre neue Abschiebepolitik im „Rückführungsverbesserungsgesetz“ nieder.

Die Kulturkämpfe der jüngsten Vergangenheit haben die Gesellschaft sturmreif geschossen für die Rechtsextremen. Sie nutzen die allgemeine Schwäche, um das Rollback zu starten – mit AfD-Wahlsiegen im Osten Deutschlands und im harschen Klima nach einem drohenden Wahlsieg Donald Trumps.

QOSHE - Ob nationalistischer oder woker Überlegenheitswahn: Orwell kennt die Neo-Autoritären - Maritta Adam-Tkalec
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Ob nationalistischer oder woker Überlegenheitswahn: Orwell kennt die Neo-Autoritären

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18.02.2024

Obsessiv überzeugt von der eigenen Überlegenheit, instabil, weil allein auf der Basis dieses Überlegenheitsgefühls handelnd, und gleichgültig gegenüber der Realität – auf wen treffen diese drei Merkmale zu? Man lasse den Scheinwerfer über die deutsche Szenerie streifen. Grün? Rot? Gelb? Schwarz? Blau oder bunt? Die Beschreibung trifft auf erstaunlich viele Akteure links wie rechts zu (männlich, weiblich, divers), und diese sind zu finden unter Rassisten wie auch Antirassisten; unter Umvolkungsfantasierern von der AfD wie Flüchtlingsrettern im Mittelmeer; Klimaleugnern wie Trans- und Schwulenhassern. Überall Neo-Autoritäre.

George Orwell (1903–1950), hellsichtiger Meister der Gesellschaftsanalyse, sah 1945 die Kraft vor sich, die die Welt gerade in den Abgrund geführt hatte – den deutschen Nationalismus. Dessen Kämpfer hatten obsessiv die Überlegenheit ihrer Nation propagiert und den großen Krieg begonnen – unversöhnlich, selbstbezogen, aufklärungsresistent, moralisch verpanzert, autoritär und taub für störende Argumente. Orwell entdeckte, dass all diese Merkmale durchaus nicht nur auf Nationalisten zutreffen. Vom eigenen Wert überzeugte Intellektuelle hält er für besonders verführbar.

George Orwell ist heute weltbekannt wegen seiner Werke „Farm der Tiere“ (1945) und „1984“ von 1949. Sie beschreiben, wie Gesellschaften unter lockenden Losungen ins Schreckliche driften. Jedoch fand sein 1945 veröffentlichter Essay „Über Nationalismus“ wenig Beachtung. Auf Deutsch erschien er erst 2020, und selbst zu dieser Zeit blieben Aktualität und Brisanz unerkannt. Womöglich irritierte Orwells weit gefasster Begriff vom Nationalismus.

Er transponiert ihn nämlich über das große (obsessiv von sich selbst überzeugte, instabile, realitätsferne) Volkskollektiv Nation hinaus auf weitere Gruppen mit verblendeter Geisteshaltung und exklusiven, autoritären Denksystemen, auf Kollektive, die sich über bestimmte Kriterien definieren, daraus Zugehörigkeiten ableiten und sich von anderen abgrenzen.

13.02.2024

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16.02.2024

Er nimmt also das in den Blick, was man heute „Identitäten“ nennt. In den vergangenen Jahren hätte Orwell sicherlich Gruppen gesichtet, die ihre Identität unbedingt über ihre Hautfarbe oder ihre Geschlechtsvariante definieren wollen, die als Wokies über hohe Erkenntnis verfügen; welche, die die Einhaltung bestimmter Speiseregeln über alles stellen, und solche, die über einen gemeinsamen Opferstatus verfügen.

Die obsessive Vorstellung von der Sonderposition der eigenen Gruppe führt dazu, dass selbst das Tragen vermeintlich gruppenspezifischer Frisuren (Dreadlocks) oder Kleider (Indianer) als übergriffiger Identitätsdiebstahl gilt. Demnach soll ein Weißer nicht Otello spielen (Blackfacing) und eine Hetero-Schauspielerin keine lesbische Frau. Singt eine Schwarze Mozartarien, wird das bislang noch nicht als verwerfliche „kulturelle Aneignung“ verstanden; möglich, dass die AfD bald auf diesen Gedanken verfällt.

Grüppchen mit angemaßter exklusiver Identität haben die Gesellschaft in den vergangenen Jahren........

© Berliner Zeitung


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