Vier Tadschiken erscheinen am späten Sonntagabend im Gericht, ihnen wird vorgeworfen, beim Terroranschlag bei Moskau mindestens 137 Menschen getötet zu haben. Sie haben sichtbare Prellungen und Hämatome an den Augen, einer sitzt regungs- und vermutlich bewusstlos im Glaskasten. Schnittwunden zieren das Gesicht eines weiteren Angeklagten – ihm sollen Berichten (und Videos) zufolge ein Ohr abgeschnitten worden sein.

Das der Weltöffentlichkeit zur Schau gezeigte Folterergebnis russischer Sicherheitsbehörden nach dem Anschlag auf einen Konzertsaal in Krasnogorsk zeigt die Gewalteskalation, die sich derzeit in Russland anbahnt. Stichwort: Sippenhaft. Denn in den wenigen Tagen seit dem Anschlag klagen immer mehr zentralasiatische – besonders tadschikische – Migranten, sie seien in sozialen Netzwerken verbalen Bedrohungen, Repressionen seitens der russischen Behörden und tätlichen Angriffen auf offener Straße ausgesetzt.

In russischen Telegram-Kanälen werden Berichte geteilt, die verstärkte Polizeikontrollen bei Nicht-Russen zeigen sollen. An Metro-Eingängen in Moskau und Sankt Petersburg werden seit dem Wochenende sämtliche „zentralasiatisch aussehende Menschen“ für Befragungen herausgezogen. Das berichten auch mehrere Gesprächspartner aus Russland der Berliner Zeitung. Außerdem habe es erste Razzien in Hostels gegeben, in denen sich tadschikische oder kirgisische Arbeitsmigranten aufhalten.

Demnach zeichnet sich nach dem Anschlag mit fast 140 Toten und etwa ebenso vielen Verletzten ein düsteres Klima zwischen Russen und Zentralasiaten ab. Und es sind beileibe nicht wenige – häufig ärmliche – Tadschiken, Kirgisen, Usbeken oder Turkmenen, die sich derzeit im geografisch größten Land der Erde aufhalten. Zentralasiatische Migranten gehören beispielsweise zur größten Gruppe von Arbeitsmigranten in der russischen Wirtschaft. Auf den Straßen von Moskau, Sankt Petersburg oder Jekaterinburg sind sie allgegenwärtig.

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22.03.2024

gestern

24.03.2024

24.03.2024

Experten rechnen mit etwa fünf Millionen Bürgern aus den ehemaligen Sowjet-Republiken. Die meisten arbeiten in der Dienstleistungsbranche – im Friseursalon, Lieferservice oder als Taxifahrer –, auf Baustellen oder in Lebensmittelmärkten. Offizielle Statistiken gibt es allerdings nicht, da ein Großteil der Zentralasiaten kein Visum für die Einreise nach Russland benötigt; viele kommen nur für ein paar Monate ins Land und kommen lediglich in Hostels oder anderweitig prekären Wohnanlagen unter.

In vielen Fällen prägt eine gegenseitige Abneigung das Bild zwischen ethnischen Russen und zentralasiatischen Arbeitsmigranten. Etliche Russen sehen Tadschiken oder Kirgisen als Menschen zweiter Klasse; umgekehrt herrscht unter vielen Zentralasiaten eine stark verbreitete Antipathie gegenüber Russen und der Geschichte des russischen Imperialismus. Zudem rekrutiert Russland gezielt zentralasiatische Arbeitsmigranten für seinen Krieg gegen die Ukraine – Moskau ködert mit der russischen Staatsbürgerschaft.

Mögliche Vergeltungsmaßnahmen an Unschuldigen nimmt man nun auch in Duschanbe und Bischkek wahr und warnt seine eigenen Bürger zum ersten Mal dringend von Reisen nach Russland ab. Das kirgisische Außenministerium fordert seine Bürger beispielsweise auf, keine „unnötigen Reisen“ nach Russland zu unternehmen. Kirgisen, die sich schon in Russland aufhalten, sollen „jederzeit Dokumente mit sich führen, die ihre Identität und die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts in der Russischen Föderation belegen“, um möglichen strafrechtlichen Konsequenzen zu entgehen.

„Russland setzt derzeit Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung um, mit verstärkten Ein- und Ausreisekontrollen“, zitiert die Moscow Times einen ranghohen kirgisischen Diplomaten, den man auf die Reisewarnung angesprochen hat. Die tadschikische Botschaft in Moskau forderte wiederum ihre Bürger auf, Großveranstaltungen und andere große Menschenansammlungen zu meiden.

Die Lage verdeutlicht eine gewisse diplomatische Brisanz: Denn üblich werden solche Reise- oder Aufenthaltswarnungen, wie kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges oder vor etwa drei Wochen zu möglichen Anschlägen in Russland, eher von den Auslandsvertretungen aus dem Westen verbreitet – nicht unbedingt von geopolitisch befreundeten Staaten.

Kirgistan und Tadschikistan sind beide Mitglieder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), ein von Moskau dominiertes Militärbündnis und eine Art post-sowjetisches Nato-Pendant. Außerdem befinden sich beide Länder in zwischenstaatlichen Bündnissen mit Moskau, wie zum Beispiel in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) oder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).

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24.03.2024

Auch die Präsidenten aus den zentralasiatischen Staaten haben sich in den vergangenen Tagen zum Terroranschlag geäußert und versuchen die Wogen schnellstmöglich zu glätten. Ihr Ziel: Zu betonen, dass die Herkunft der mutmaßlichen Terroristen keine Rolle spielt. Denn „Terroristen haben keine Nationalität, kein Heimatland und keine Religion“, so der tadschikische Staatschef Emomalij Rahmon. Der langjährige Präsident – seit 1994 im Amt – versucht immer wieder den Vorwurf, Tadschikistan sei ein Ort gedeihender islamistischer Terrorzellen, von sich zu weisen. Das 1,2-Millionen-Einwohner-Land zählt zu den ärmsten Staaten in der Region und grenzt im Norden an Kirgisistan, im Osten an China, im Süden an Afghanistan und im Westen an Usbekistan.

Russlands ehemaliger Präsident und stellvertretender Leiter des Sicherheitsrats Dmitri Medwedew dürstet jedenfalls nur so vor Rache. „Müssen wir sie töten? Wir müssen es. Und das werden wir auch“, schreibt er auf seinem Telegram-Kanal. Medwedew, einer der größten Kriegsbefürworter Russlands, behauptet zudem, es sei „wichtiger, alle Beteiligten zu töten“, als nur die vier Verdächtigen, die sich derzeit in Gewahrsam befinden. „Diejenigen, die bezahlt haben, diejenigen, die mit ihnen sympathisierten und diejenigen, die geholfen haben“, so Medwedew, „tötet sie alle“. Auch Akteure aus Ländern, die das „Massaker“ unterstützt hätten, müsste man ebenfalls „vernichten“, schreibt Medwedew.

We will avenge each and every one. And those who are involved, regardless of the country of origin and status, are now our main and legitimate target.

You just wait, bastards.

Medwedew ist nicht das einzige ranghohe Mitglied der politischen Elite in Russland, das eine Rückkehr der Todesstrafe fordert. Zwar verhängte 1999 Präsident Boris Jelzin ein Moratorium zur Todesstrafe – ein Protokoll zur Ächtung von Todesurteilen wurde jedoch nie von der Staatsduma ratifiziert.

„Jetzt werden viele Fragen zur Todesstrafe gestellt“, sagte Wladimir Wassiljew, Vorsitzender der Regierungspartei Einiges Russland. „Dieses Thema wird auf jeden Fall gründlich, professionell und inhaltlich ausgearbeitet. Es wird eine Entscheidung getroffen, die der Stimmung und den Erwartungen unserer Gesellschaft entspricht“, so Wassiljew in einer Videobotschaft. Auch Juri Afonin, Abgeordneter der Kommunistischen Partei fordert, eine Wiedereinführung der Todesstrafe, „wenn es um Terrorismus und Mord geht“. Einem Sprecher zufolge prüft das russische Verfassungsgericht schon die Möglichkeit der Aufhebung des Moratoriums von 1999.

Obwohl sich Kremlsprecher Dmitri Peskow zur Rückkehr der Todesstrafe oder zu den Foltervorwürfen gegenüber den Terrorverdächtigen nicht äußern wollte, benannte Präsident Wladimir Putin zum ersten Mal die mutmaßlichen Täter. „Radikale Islamisten“ stünden hinter dem Angriff auf das Konzerthaus bei Moskau. Er wiederholte jedoch seine Behauptung vom Wochenende, dass die Ukraine involviert gewesen sei und Washington angeblich versucht habe, die „ukrainische Spur“ zu vertuschen. Auch in sozialen Netzwerken und Telegram-Kanälen wird in Russland weitaus häufiger die „Beteiligung der Ukraine“ diskutiert als die Gefahren des islamistischen Terrors im Land, der schon Ende der 1990er und zu Beginn des Jahrtausends wütete.

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Noch weiter geht Alexander Bortnikow, Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Demnach seien die USA, Großbritannien und die Ukraine für den Terroranschlag verantwortlich. „Was sollen sie tun, um ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen? Sabotage- und Terroranschläge verüben. Darauf zielen sowohl die Chefs der ukrainischen Geheimdienste als auch die britischen Geheimdienste ab. Auch US-Dienste haben dies wiederholt getan“, sagt Bortnikow.

QOSHE - Folter nach Terroranschlag in Russland: Zentralasiaten befürchten Gewalt gegen Landsleute - Nicolas Butylin
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Folter nach Terroranschlag in Russland: Zentralasiaten befürchten Gewalt gegen Landsleute

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26.03.2024

Vier Tadschiken erscheinen am späten Sonntagabend im Gericht, ihnen wird vorgeworfen, beim Terroranschlag bei Moskau mindestens 137 Menschen getötet zu haben. Sie haben sichtbare Prellungen und Hämatome an den Augen, einer sitzt regungs- und vermutlich bewusstlos im Glaskasten. Schnittwunden zieren das Gesicht eines weiteren Angeklagten – ihm sollen Berichten (und Videos) zufolge ein Ohr abgeschnitten worden sein.

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Demnach zeichnet sich nach dem Anschlag mit fast 140 Toten und etwa ebenso vielen Verletzten ein düsteres Klima zwischen Russen und Zentralasiaten ab. Und es sind beileibe nicht wenige – häufig ärmliche – Tadschiken, Kirgisen, Usbeken oder Turkmenen, die sich derzeit im geografisch größten Land der Erde aufhalten. Zentralasiatische Migranten gehören beispielsweise zur größten Gruppe von Arbeitsmigranten in der russischen Wirtschaft. Auf den Straßen von Moskau, Sankt Petersburg oder Jekaterinburg sind sie allgegenwärtig.

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22.03.2024

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24.03.2024

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Experten rechnen mit etwa fünf Millionen Bürgern aus den ehemaligen Sowjet-Republiken. Die meisten arbeiten in der Dienstleistungsbranche – im Friseursalon, Lieferservice oder........

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