Es sind Szenen in Georgien, die unlängst an die Anfangsstunden des Maidan in der Ukraine erinnern: Demonstranten bauen Barrikaden und singen ihre Nationalhymne. Sie schreien „Georgien ist Europa“, hissen EU- und Georgien-Flaggen und fordern den Rücktritt der Regierungspartei. Rauchschwaden ziehen über den Rustaweli-Boulevard in der Innenstadt von Tiflis. Polizeieinheiten setzen wiederum Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Massenproteste in der georgischen Hauptstadt aufzulösen. Auch über den Einsatz von Gummigeschossen wird berichtet. Die Lage schaukelt sich im Südkaukasusland von Tag zu Tag hoch.

Hintergrund der innenpolitischen Spannungen in der ehemaligen Sowjetrepublik ist das sogenannte Agentengesetz. Das Gesetz verpflichtet zivilgesellschaftliche Gruppen, Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Medien, sich bei den Behörden zu registrieren, falls diese zu mindestens 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden. Bekäme beispielsweise eine NGO in Tiflis ein Drittel ihres Budgets aus Deutschland, müsse sie als „Organisation, die Interessen einer ausländischen Macht vertritt“ eingestuft werden. Die vielen Kritiker eines solchen Gesetzes ziehen Analogien zu einem ähnlichen Gesetz in Russland – dort wurden mithilfe des Gesetzes über „ausländische Agenten“ kremlkritische Medien und NGOs in den vergangenen 15 Jahren ausgeschaltet.

Die Idee eines solchen „Agentengesetzes“ ist auch in Georgien nicht neu. Erst vor einem Jahr kam es infolge des ersten Gesetzentwurfes zu Massenprotesten in den georgischen Großstädten. Tausende Georgier forderten die Regierung damals auf, das „russische“ Gesetz – so wird das Gesetz von Kritikern genannt – zurückzunehmen und die EU-Zukunft des Landes nicht aufs Spiel zu setzen. Die Polizei setzte daraufhin wie auch in diesen Tagen Wasserwerfer und Tränengas gegen die Demonstranten ein; wenige Tage später beugte sich die Regierungspartei allerdings der Macht der Straße.

Das ist im Frühling 2024 nicht mehr der Fall: Schon in der Nacht auf den 1. Mai begann die georgische Polizei Pfefferspray und Tränengas auf Demonstranten zu sprühen, die versuchten, in das Parlamentsgebäude einzudringen. Das berichteten Augenzeugen der Berliner Zeitung.

30.04.2024

•gestern

30.04.2024

Ein Demonstrant sagte: „Es gibt jetzt kein Zurück mehr. Für beide Seiten ist mit der Gewalt der ‚Point of no Return‘ erreicht“. Es ginge demnach nicht mehr nur um das Agentengesetz, sondern um die Zukunft Georgiens, die EU-Ambitionen des Landes sowie die Absetzung der Regierungspartei (Georgischer Traum), so der Tenor der Massenproteste.

In #Tiflis versuchen Demonstranten, Barrikaden auf dem zentralen Rustaweli-Prospekt zu errichten. #Georgien

Einige Demonstranten verließen von dort, nachdem sie von Wasserwerfern zerstreut worden waren, den Bereich vor dem Justizministerium und
blockierten die Straße.. pic.twitter.com/hTMIerh0JG

Die Behörden in Tiflis argumentieren hingegen, dass sie „Recht und Ordnung“ wiederherstellen würden und dementsprechend die „gesetzlich vorgesehenen Mittel – Pfefferspray und Wasserwerfer – einsetzen“. Regierungsmitglieder rufen die Demonstranten auf, ihr verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf friedlichen Protest nicht zu überschreiten und beschuldigen „ausländische Mächte und die radikale Opposition“ für die Eskalation der Proteste.

So kritisiert Ministerpräsident Irakli Kobachidse Politiker aus EU-Staaten und westliche Diplomaten für die „Verleumdung“ des Gesetzesvorhabens. Der 45-Jährige beschuldigt insbesondere die baltischen Staaten, Georgien in den russischen Krieg gegen die Ukraine hineinziehen zu wollen. Oppositionelle werfen dem „Georgischen Traum“ wiederum vor, eine Marionette Russlands zu sein.

In den Straßen von Tiflis wie auch in den sozialen Medien werden zudem erste Vergleiche mit dem berüchtigten Euromaidan in Kiew gezogen. „Die Stimmung ist sehr ähnlich zu der Revolution in der Ukraine“, berichtet eine Demonstrantin der Berliner Zeitung. Ein User schreibt auf X, ehemals Twitter, Georgien habe am vergangenen Dienstag- und Mittwochabend seinen „Janukowitsch-Moment“ erlebt. Viele Ukraine-Unterstützer solidarisierten sich mit den Demonstrationen gegen die Regierung in Tiflis.

Die angespannte Lage in Georgien sorgt derweil auch in Brüssel, Berlin und Washington für Bauchschmerzen. Besonders die EU schaut mit Anspannung in den südlichen Kaukasus – Georgien ist seit Dezember vergangenen Jahres EU-Beitrittskandidat. Damals brach in den georgischen Großstädten Jubel aus; eine große Mehrheit der Bevölkerung befürwortet Umfragen zufolge einen EU-Beitritt. Doch das Gesetz, so die Warnung aus Brüssel, untergrabe die EU-Ambitionen Georgiens.

Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, verurteilte die Regierung in Tiflis für den gewaltsamen Umgang mit den Demonstranten. „Das georgische Volk wünscht sich eine europäische Zukunft für sein Land“, heißt es in einem Post auf X. „Die georgischen Bürger zeigen ihre tiefe Verbundenheit mit der Demokratie. Die georgische Regierung sollte diese klare Botschaft berücksichtigen“, so von der Leyen.

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Auch Außenministerin Annalena Baerbock schlägt in die gleiche Kerbe und warnt die Regierung, dass sich das politische Tiflis nicht den Weg in die Zukunft verbauen dürfe. „Georgiens EU-Kandidatenstatus ist eine historische Chance, die von Zehntausenden Menschen auf den Straßen getragen wird. Ihr Fundament ist eine demokratische, lebendige und kritische Zivilgesellschaft“, schreibt die Grünen-Politikerin auf X.

Während das amerikanische Außenministerium der Regierungspartei in Georgien eine „antiwestliche Rhetorik“ vorwirft, äußerte sich die russische Führung bisher nicht öffentlich zu den Protesten im Nachbarland. Kremlsprecher Peskow sagte lediglich schon Anfang April, Russland habe mit dem Gesetzentwurf nichts zu tun. Russland betrachtet Georgien als sein unmittelbares Einflussgebiet; die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien erkannte Moskau als unabhängige Staaten an. Peskow sehe zudem keine Analogien zu einem ähnlichen Gesetz in Russland und behauptet, die USA hätten mit ihrem „Foreign Agents Registration Act“ als erstes Land ein System zur Bekämpfung ausländischer Agenten entwickelt.

Despite ongoing dispersals, the rallies in Georgia show no signs of stopping. Today, a sea of ppl gathered to protest, many wearing masks to protect against tear gas & pepper spray. They had to stand in long lines to purchase the protective gear. 📷s from public FB groups. pic.twitter.com/0gmx5PaNdM

Wie den sozialen Medien zu entnehmen ist, bereiten sich viele Georgier auf weitere gewaltvolle Protestnächte vor. Mehrere organisierte Busse sollen aus anderen Städten Georgiens nach Tiflis fahren, um an den Protesten mitzuwirken. Außerdem stehen Menschen vor Apotheken Schlange, um sich mit Taucherbrillen und Corona-Schutzmasken einzudecken, die gegen Pfefferspray und Tränengas schützen sollen. Beobachter rechnen auch in den kommenden Tagen mit einer hochkochenden Atmosphäre im Stadtzentrum von Tiflis – die dritte Lesung und finale Abstimmung zum Gesetz werde laut Regierungschef Kobachidse in zwei Wochen stattfinden.

QOSHE - Proteste in Georgien eskalieren: „Es gibt kein Zurück mehr“ - Nicolas Butylin
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Proteste in Georgien eskalieren: „Es gibt kein Zurück mehr“

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02.05.2024

Es sind Szenen in Georgien, die unlängst an die Anfangsstunden des Maidan in der Ukraine erinnern: Demonstranten bauen Barrikaden und singen ihre Nationalhymne. Sie schreien „Georgien ist Europa“, hissen EU- und Georgien-Flaggen und fordern den Rücktritt der Regierungspartei. Rauchschwaden ziehen über den Rustaweli-Boulevard in der Innenstadt von Tiflis. Polizeieinheiten setzen wiederum Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Massenproteste in der georgischen Hauptstadt aufzulösen. Auch über den Einsatz von Gummigeschossen wird berichtet. Die Lage schaukelt sich im Südkaukasusland von Tag zu Tag hoch.

Hintergrund der innenpolitischen Spannungen in der ehemaligen Sowjetrepublik ist das sogenannte Agentengesetz. Das Gesetz verpflichtet zivilgesellschaftliche Gruppen, Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Medien, sich bei den Behörden zu registrieren, falls diese zu mindestens 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden. Bekäme beispielsweise eine NGO in Tiflis ein Drittel ihres Budgets aus Deutschland, müsse sie als „Organisation, die Interessen einer ausländischen Macht vertritt“ eingestuft werden. Die vielen Kritiker eines solchen Gesetzes ziehen Analogien zu einem ähnlichen Gesetz in Russland – dort wurden mithilfe des Gesetzes über „ausländische Agenten“ kremlkritische Medien und NGOs in den vergangenen 15 Jahren ausgeschaltet.

Die Idee eines solchen „Agentengesetzes“ ist auch in Georgien nicht neu. Erst vor einem Jahr kam es infolge des ersten Gesetzentwurfes zu Massenprotesten in den georgischen Großstädten. Tausende Georgier forderten die Regierung damals auf, das „russische“ Gesetz – so wird das Gesetz von Kritikern genannt – zurückzunehmen und die EU-Zukunft des Landes nicht aufs Spiel zu setzen. Die Polizei setzte daraufhin wie auch in diesen Tagen Wasserwerfer und Tränengas........

© Berliner Zeitung


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