Für den Großteil der Russen ist der 9. Mai der wichtigste Feiertag im Jahr. Tausende Moskauer, Petersburger und Bürger anderer russischer Städte versammeln sich stets am Vormittag zum gemeinsamen Gedenkmarsch. Sie halten Porträtbilder ihrer Vorfahren hoch – wobei nicht alle einen Urgroßvater haben, der direkt im Zweiten Weltkrieg mitkämpfte –, viele tragen das orange-schwarze Sankt-Georgs-Band oder wehen die weiß-blau-rote Trikolore, die Fahne Russlands, durch die Luft.

Das „Unsterbliche Regiment“, so nennt sich der Marsch am 9. Mai in vielen russischen Städten, zählt zu den wichtigsten Elementen am Tag des Sieges. Doch in diesem Jahr werden wieder, wie auch in den zwei Jahren zuvor, einige Gedenkmärsche abgesagt. Es macht sich Unmut breit. Darüber hinaus ist es ein offenes Geheimnis, dass der Ukrainekrieg in mehrerer Hinsicht damit zusammenhängt.

Die Co-Vorsitzende der staatlich unterstützen Bewegung, die die Märsche des „Unsterblichen Regiments“ mitorganisiert, Jelena Tsunaewa, begründet die Absage anhand „bestehender Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit“. Der Gouverneur der Region Kursk, ein Gebiet in Grenznähe zur Ukraine, argumentiert mit „hoher Terrorgefahr“. Auch in anderen westrussischen Städten wie Brjansk, Pskow oder Belgorod sagten die Behörden den wichtigsten Gedenkmarsch des Jahres ab.

„Wir laden die Einwohner von Kursk ein, Porträts ihrer Familienmitglieder an die Fenster ihrer Autos und Häuser zu hängen“, wirbt der Gouverneur von Kursk für eine Alternative zum traditionellen Marsch. In der Region Belgorod sehe man „Schwierigkeiten in der Organisation von Massenveranstaltungen auf offener Straße“. Sicherheitsbehörden in anderen Gebieten im Westen Russlands inserieren Möglichkeiten, digital der Vorfahren zu gedenken – wie zu Hochzeiten der Corona-Pandemie. Dabei spielt Covid in Russland derzeit keine Rolle mehr.

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Es sind vielmehr die kleinteiligen, mutmaßlich ukrainischen Drohnenattacken der vergangenen Monate, die die russischen Behörden zum Einlenken bringen. Belgorod, Kursk und andere Orte sind immer häufiger zum Ziel von Angriffen geworden. Kiew versucht, die für den Krieg wichtige Infrastruktur in Russland wie Munitionslager oder Ölraffinerien weit hinter der Front zu treffen. In den russischen Grenzregionen sterben aber auch immer wieder Zivilisten – von einem Leben weit weg vom Krieg wie beispielsweise in Moskau oder Sankt Petersburg kann in den westrussischen Regionen keine Rede sein. Die Großstädte Belgorod oder Kursk liegen teilweise nur 30 bis 80 Kilometer vom ukrainischen Territorium entfernt.

Dabei hat der Ukrainekrieg das russische Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs in vielerlei Hinsicht verändert. Die Zahlen der gefallenen Soldaten, die für Russland im Donbass kämpfen, sind immens. Auch wenn das Gros der Teilnehmer am „Unsterblichen Regiment“ hinter dem Krieg gegen die Ukraine stehen dürfte, befürchten Behörden, dass bei dem Gedenkmarsch zunehmend an gefallene Soldaten in der Ukraine gedacht werden könnte.

Den sozialen Medien in Russland ist zu entnehmen, dass immer mehr Russen die Idee hegen, Porträtbilder ihrer erst kürzlich im Donbass gefallenen Väter, Brüder und Söhne auf dem „Unsterblichen Regiment“ zu zeigen. Die russische Führung will aber genau diese – für den Kreml unangenehme – Parallele zwischen den Toten im „Großen Vaterländischen Krieg“ und dem Ukrainekrieg unterbinden. In der Volksmasse könnten kritische Töne entstehen; man könnte beginnen zu hinterfragen; eine generelle Antikriegsstimmung könnte aufflammen.

Und so entwickelt sich das „Unsterbliche Regiment“, zumindest in diesem Jahr, wieder zurück zu einem eher privat organisierten Element der russischen Erinnerungskultur – wie noch in den 1990ern und zu Beginn der 2000er-Jahre. In VKontakte- (russisches Pendant zu Facebook) und Telegram-Gruppen werden nachbarschaftliche Märsche fernab von regierungsnahen Organisatoren geplant und durchgeführt. Gänzlich lassen sich die Russen ihre Gedenkmärsche doch nicht nehmen.

Derweil sorgt der Ausfall der „Unsterblichen Regimenter“ auch bei den westlichen Behörden und Geheimdiensten für verstärktes Aufsehen. Das britische Verteidigungsministerium, das auf X, ehemals Twitter, täglich neue „Intelligence Updates“ veröffentlicht, berichtet ebenfalls über die behördlich angeordnete Absage. Auch in London meint man, „das Potenzial für Proteste und Unzufriedenheit über den Ukrainekrieg dürfte die russische Führung beeinflusst haben“.

🇪🇸🇷🇺 - The “Immortal Regiment” action took place in Madrid.

It was officially approved by the authorities. Over a thousand people took part in it. During the procession of the column, songs from the Soviet era were sung. pic.twitter.com/BAt5W07cUm

Europaweit organisieren in mehreren Städten russische Diaspora-Gruppen ähnliche Märsche des „Unsterblichen Regiments“. So versammelten sich in der spanischen Hauptstadt Madrid mehrere Hundert Menschen zum gemeinsamen Gedenken. Auch in Berlin ist für den 9. Mai in der Nähe des sowjetischen Ehrenmals im Tiergarten ein solcher Marsch geplant.

QOSHE - Russische Angst vor falschem Gedenken? Märsche des „Unsterblichen Regiments“ abgesagt - Nicolas Butylin
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Russische Angst vor falschem Gedenken? Märsche des „Unsterblichen Regiments“ abgesagt

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09.05.2024

Für den Großteil der Russen ist der 9. Mai der wichtigste Feiertag im Jahr. Tausende Moskauer, Petersburger und Bürger anderer russischer Städte versammeln sich stets am Vormittag zum gemeinsamen Gedenkmarsch. Sie halten Porträtbilder ihrer Vorfahren hoch – wobei nicht alle einen Urgroßvater haben, der direkt im Zweiten Weltkrieg mitkämpfte –, viele tragen das orange-schwarze Sankt-Georgs-Band oder wehen die weiß-blau-rote Trikolore, die Fahne Russlands, durch die Luft.

Das „Unsterbliche Regiment“, so nennt sich der Marsch am 9. Mai in vielen russischen Städten, zählt zu den wichtigsten Elementen am Tag des Sieges. Doch in diesem Jahr werden wieder, wie auch in den zwei Jahren zuvor, einige Gedenkmärsche abgesagt. Es macht sich Unmut breit. Darüber hinaus ist es ein offenes Geheimnis, dass der Ukrainekrieg in mehrerer Hinsicht damit zusammenhängt.

Die Co-Vorsitzende der staatlich unterstützen Bewegung, die die Märsche des „Unsterblichen Regiments“ mitorganisiert, Jelena Tsunaewa, begründet die Absage anhand „bestehender Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit“. Der Gouverneur der Region Kursk, ein Gebiet in Grenznähe zur Ukraine, argumentiert mit „hoher Terrorgefahr“. Auch in anderen westrussischen Städten wie Brjansk, Pskow oder Belgorod sagten die Behörden den wichtigsten Gedenkmarsch des........

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