Wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, hinüber auf die andere Straßenseite und dann etwa drei Meter einen Laternenpfahl empor, sehe ich das bärtige Gesicht eines Mannes, der König werden will. Mein König. Doch so weit sind wir beide noch nicht. Noch muss er gewählt werden, um die Demokratie abschaffen und das Königreich Sachsen wiederherstellen zu können. Und noch will auch ich das verhindern.

Aber wem soll ich meine Stimmen geben am sächsischen Doppelwahltag im Juni? Wer soll meine Interessen im Chemnitzer Stadtrat vertreten? Wer meine Ideale im Europaparlament schützen? Wichtig ist mir vor allem, dass nicht nur das Vermögen, sondern auch das Unvermögen umverteilt wird.

Der Möchtegernkönig vor meinem Fenster heißt Martin Kohlmann, ein Anwalt aus Chemnitz, der die rechtsextreme Kleinpartei Freie Sachsen in den Kommunalwahlkampf führt und zum Beispiel so etwas sagt: „Die Demokratie tendiert dazu, autoritär zu werden.“ Dass ein Drittel der Sachsen glaubt, bereits in einer Diktatur zu leben, und mehr als ein Drittel der Aussage zustimmt, die regierenden Parteien würden das Volk betrügen, macht Kohlmann sicherlich Mut und bereitet mir mindestens Magenschmerzen.

Den überall und tiefer als sonst in der Stadt plakatierten Forderungen zufolge wollen die „Freien Sachsen“ erst mal den „Säxit“ und damit „raus aus dem Wahnsinn“ namens Deutschland; Flüchtlingswellen sind für sie eine „Asylflut“, die es zu stoppen gilt; und weil sie die Aufarbeitung der Pandemie mit der Suche nach Schuldigen verwechseln, haben die „Freien Sachsen“ einen konkreten Lösungsvorschlag: „Handschellen müssen klicken.“ Denn wenn alle Politiker verhaftet und verurteilt sind, so lautet wahrscheinlich die Hoffnung, dann klappt es auch mit dem Königreich.

•vor 50 Min.

09.05.2024

09.05.2024

Kurz habe ich überlegt, den demokratischen Freiheitskämpfern von der FDP meine Stimme zu geben, weil mich ihr Wahlplakatversprechen „Nachtleben in Chemnitz verbessern“ ansprach. Wer schon mal nachts in Chemnitz unterwegs war, weiß, dass in der toten Innenstadt höchstens die Angst lebt, auf erlebnisorientierte Vasallen des Königs zu treffen.

Allerdings verstand ich die vorangestellte Frage nicht ganz: „Öfter mal (an)stoßen?“ Thomas Kunz, der stellvertretende Landesvorsitzende der FDP Sachsen, erklärte dazu: „Natürlich ist dieser durchaus zweideutige Slogan ein Anspielen auf das Gläser-Anstoßen im Nachtleben, aber auch auf das ‚privatere‘ und einvernehmliche Nachtleben.“

Die Zeiten scheinen mir zu ernst zu sein, um mein Kreuzchen hinter eine Satirepartei wie die FDP zu setzen. Überhaupt tue ich mich schwer damit, eine Wahl zu treffen. Selbst wenn ein Politiker intellektuelle Höchstleistungen vermuten lässt wie Michael Spitzhirn von der CDU, bin ich mir nicht sicher, ob er eine Ausbildung zum Brandmaurer abgeschlossen hat.

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Zunächst verlockend fand ich, was die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung auf europäischer Ebene verspricht: „Unbegrenzt langes Leben für alle“. Die Schäden des Alterns können angeblich so erfolgreich repariert werden, dass die Partei auf einem anderen Plakat bereits fragt: „Wo willst du in 800 Jahren leben?“ In einem Königreich Sachsen, das 2824 an den Anfang vom Ende der Demokratie erinnert, sicherlich nicht.

In der Kolumne „Ostbesuch“ berichtet Paul Linke alle zwei Wochen aus seinem Zwischenleben in Chemnitz und Umgebung. Sachsen sucks? Von wegen!

QOSHE - Wo willst du in 800 Jahren leben? In einem Königreich Sachsen lieber nicht - Paul Linke
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Wo willst du in 800 Jahren leben? In einem Königreich Sachsen lieber nicht

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12.05.2024

Wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, hinüber auf die andere Straßenseite und dann etwa drei Meter einen Laternenpfahl empor, sehe ich das bärtige Gesicht eines Mannes, der König werden will. Mein König. Doch so weit sind wir beide noch nicht. Noch muss er gewählt werden, um die Demokratie abschaffen und das Königreich Sachsen wiederherstellen zu können. Und noch will auch ich das verhindern.

Aber wem soll ich meine Stimmen geben am sächsischen Doppelwahltag im Juni? Wer soll meine Interessen im Chemnitzer Stadtrat vertreten? Wer meine Ideale im Europaparlament schützen? Wichtig ist mir vor allem, dass nicht nur das Vermögen, sondern auch das Unvermögen umverteilt wird.

Der Möchtegernkönig vor meinem Fenster heißt Martin Kohlmann, ein Anwalt aus Chemnitz, der die rechtsextreme Kleinpartei Freie Sachsen in den Kommunalwahlkampf führt und zum Beispiel so etwas sagt: „Die Demokratie........

© Berliner Zeitung


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