Blaue Flecken, Platz- und Bisswunden, gebrochene Arme und Finger – um es salopp zu formulieren: Auf die Fresse zu kriegen gehört mittlerweile zum Alltag vieler Ärzte und Pflegekräfte in deutschen Kliniken.

In der Öffentlichkeit ist das Thema nicht angekommen, nicht weil niemand darüber spricht, sondern weil es allzu oft bagatellisiert, weggeredet oder verschwiegen wird. „Gewalt gegen Rettungskräfte gibt es nicht!“, heißt es dann, oder: „Polizisten haben es manchmal nicht besser verdient; Patienten sind krank und können nichts dafür; wer darüber redet, verschärft nur den Fachkräftemangel in diesen Branchen, weil noch weniger Leute Bock haben, dort zu arbeiten.“

Jetzt wurde ein Video veröffentlicht, das in der Silvesternacht von einer Überwachungskamera im Sana-Klinikum Lichtenberg aufgenommen und der Berliner Zeitung zugespielt wurde. Darauf ist zu sehen, wie drei junge Männer aggressiv und völlig enthemmt einem Arzt und einem Pfleger mehrfach ins Gesicht schlagen. Der Grund: Sie hatten die Nase voll vom Warten auf die Behandlung.

Das spielte sich in der Neujahrsnacht in der Rettungsstelle des Sana-Klinikums in Berlin-Lichtenberg ab: Ein 25-Jähriger und seine Brüder wollten nicht so lange warten. Sie schlugen einen Arzt nieder und verletzten einen Pfleger. pic.twitter.com/CDPfbwNc1R

03.01.2024

•gestern

03.01.2024

03.01.2024

03.01.2024

Die Empörung ist groß. Und ganz ehrlich: Ich freue mich darüber! Für mich ist dieses Video fast schon eine Form der Notwehr des medizinischen Personals, das sich offenbar nicht mehr anders zu helfen weiß, als den Menschen da draußen die ungeschminkte Wahrheit vor den Latz zu knallen.

Zwei Tage zuvor stand der gleiche Vorfall in der Zeitung. Aber das hat keine Sau interessiert. Es brauchte also schockierende Bilder, um der Welt da draußen klarzumachen, was seit Jahrzehnten mit uns passiert. Bilder, die bei uns im Krankenhaus und auf der Straße Realität sind. Reale Schmerzen, reale Ängste vor dem nächsten Zwischenfall, reale Traumata.

Nach dem Übergriff im Krankenhaus Lichtenberg: Jetzt spricht die Klinik-Leitung

•gestern

Ricardo Lange: Wie ich nach Silvester als Krankenpfleger die schwersten Verletzungen behandeln muss

03.01.2024

Was sind das für Menschen, die Hilfe suchend in ein Krankenhaus kommen oder den Notruf wählen und dann das Personal, das sie retten soll, zusammenschlagen? Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, was in ihren Köpfen vorgeht. Ich weiß nur, dass Situationen wie im Video kein Einzelfall sind und fast jede Pflegekraft ein Lied davon singen kann.

Meine erste Begegnung mit Gewalt war am Ende meiner Ausbildung, ebenfalls in einer Rettungsstelle: Ein Mann mittleren Alters kam mit Rückenschmerzen zu uns und wurde bereits nach einer halben Stunde Wartezeit unruhig und kurz darauf aggressiv. Er trat Mülltonnen um, schlug mit Fäusten gegen die Wände, schrie und fluchte. Als wir ihn des Hauses verweisen wollten, wurde er immer lauter und fing an, uns zu schubsen. Er drohte mir, wollte mir nach Dienstschluss aufzulauern: „Dann wirst du schon sehen, was passiert.“ In der gleichen Rettungswache wurde ein Kollege niedergestochen und lag wochenlang auf der Intensivstation.

Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich selbst in der Notaufnahme saß, weil ich von Patienten gekratzt, gebissen oder angespuckt wurde – jedes Mal mit der Angst, mich mit Hepatitis oder HIV angesteckt zu haben. Ich habe miterlebt, wie Kollegen gewürgt wurden, wie ihnen Arme und Finger gebrochen wurden oder wie sie blutüberströmt mit einer Platzwunde am Kopf aus dem Zimmer taumelten, weil der Patient ihnen mit dem Bettgalgen ins Gesicht geschlagen hatte.

Mein Horrortrip mit dem ICE: Wie ich wegen der Deutschen Bahn Stress mit der Bundespolizei bekam

03.12.2023

Das sind die extremen, nicht alltäglichen Fälle. Aber die, die uns fast in jeder Schicht begleiten, dürfen daneben nicht verblassen: die Beschimpfungen, die Drohungen, das Anspucken und Kneifen, das Beißen, die sexuellen Übergriffe, die Handgreiflichkeiten, vor allem auf Kolleginnen. Auch das ist Gewalt gegen uns, die nicht hinnehmbar ist.

Und plötzlich taucht Karl Lauterbach auf, um sich des Themas anzunehmen. Ich wünsche mir, dass dieses Video endlich einen Stein ins Rollen bringt, dass den Worten Taten folgen. Ich möchte, dass wir in jeder Klinik Sicherheitskonzepte bekommen, Sicherheitspersonal, Konfliktschulungen und Unterstützung bei der Verarbeitung der dennoch erlebten Traumata, denn auch wir haben ein Recht auf Schutz, auf körperliche und seelische Unversehrtheit, auf ein Mindestmaß an Würde.

Es muss Gesetze geben, die harte Strafen vorsehen. Aber es muss auch eine Justiz geben, die das volle Spektrum der Strafen ausschöpft. Ein Krankenhaus ist ein Ort der Heilung und deshalb ein besonders schützenswerter Ort. Man geht ja auch nicht in die Kirche und spuckt dem Pfarrer ins Gesicht.

QOSHE - Ricardo Lange: Auf die Fresse zu kriegen gehört zum Alltag vieler Ärzte und Pfleger - Ricardo Lange
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Ricardo Lange: Auf die Fresse zu kriegen gehört zum Alltag vieler Ärzte und Pfleger

8 23
05.01.2024

Blaue Flecken, Platz- und Bisswunden, gebrochene Arme und Finger – um es salopp zu formulieren: Auf die Fresse zu kriegen gehört mittlerweile zum Alltag vieler Ärzte und Pflegekräfte in deutschen Kliniken.

In der Öffentlichkeit ist das Thema nicht angekommen, nicht weil niemand darüber spricht, sondern weil es allzu oft bagatellisiert, weggeredet oder verschwiegen wird. „Gewalt gegen Rettungskräfte gibt es nicht!“, heißt es dann, oder: „Polizisten haben es manchmal nicht besser verdient; Patienten sind krank und können nichts dafür; wer darüber redet, verschärft nur den Fachkräftemangel in diesen Branchen, weil noch weniger Leute Bock haben, dort zu arbeiten.“

Jetzt wurde ein Video veröffentlicht, das in der Silvesternacht von einer Überwachungskamera im Sana-Klinikum Lichtenberg aufgenommen und der Berliner Zeitung zugespielt wurde. Darauf ist zu sehen, wie drei junge Männer aggressiv und völlig enthemmt einem Arzt und einem Pfleger mehrfach ins Gesicht schlagen. Der Grund: Sie hatten die Nase voll vom Warten auf die Behandlung.

Das spielte sich in der Neujahrsnacht in der Rettungsstelle des Sana-Klinikums in Berlin-Lichtenberg ab: Ein 25-Jähriger und seine Brüder wollten nicht so lange warten. Sie........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play