Kranke und Verletzte, darunter immer wieder auch Mörder, Vergewaltiger und Kinderschänder – ein Krankenhaus ist ein Sammelbecken, in dem die unterschiedlichsten Menschen aus allen sozialen Schichten und unzählige Schicksale aufeinander treffen.

Jeder einzelne von ihnen wird von uns Ärzten und Pflegekräften versorgt und behandelt, und wir flicken auch diejenigen wieder zusammen, die anderen unsägliches Leid zugefügt oder gar das Leben geraubt haben.

Schon während meiner Ausbildung kam ich mit Menschen in Berührung, die ich vorher nur aus dem Fernsehen kannte. An den Drogendealer, der zur Überwachung auf der Intensivstation lag, während ich damals dort meinen praktischen Einsatz hatte, erinnere ich mich noch sehr gut. Der junge Mann hatte bei einer Polizeikontrolle mehrere in Alufolie eingewickelte Heroinkügelchen verschluckt, um die Beweise schnell verschwinden zu lassen. Ein Versteck auf Zeit, denn spätestens beim nächsten großen Toilettengang kommen die Kugeln wieder ans Tageslicht. So zumindest die Theorie.

Er kam zu uns, weil die Gefahr bestand, dass sich die Kugeln im Magen oder Darm öffnen und sein Leben beenden könnten. Mit Handschellen ans Bett gefesselt, bewacht von zwei bewaffneten Polizisten, die vor seinem Zimmer saßen, lag er da. Ich erhielt den Auftrag, seinen Stuhlgang zu überwachen und den Polizisten in der Bettpfanne vorzuzeigen. Diese zerdrückten jeden Quadratzentimeter der stinkenden braunen Masse mit einer Gabel, als wäre es Kartoffelbrei.

Das Ziel: das Heroin zu finden und als Beweismittel sicherzustellen. Vorsichtshalber wurde der ganze Stuhl nach der Prozedur in Tüten gesammelt und eingeschweißt. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als die beiden Polizisten jedes Mal mit „Stein, Schere, Papier“ ausknobelten, wer diesmal mit der Gabel auf Drogensuche gehen durfte.

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Es sind nicht nur die Opfer von Gewalttaten, die zu uns auf die Intensivstation kommen, sondern auch ihre Täter. Es ist noch nicht lange her, da habe ich einen Mann betreut, der morgens neben seiner Freundin aufgefunden wurde. Sie war tot. Er selbst hatte eine riesige Schnittwunde im Gesicht. Wer den „Joker“ aus Batman kennt, hat eine ungefähre Ahnung. Es sah aus, als hätte jemand versucht, ihm ein Lächeln ins Gesicht zu schneiden. Vom Mundwinkel weit über die Wange bis zum Ohr zog sich der tiefe Schnitt.

Das aber, was mich an diesem Tag wirklich irritiert hatte, war die Tatsache, dass er keinerlei erkennbare emotionale Regung zeigte. Keine Trauer, keine Träne, nichts! Ganz im Gegenteil. Er schien gut gelaunt zu sein, scherzte, ganz im Einklang mit seiner Verstümmelung im Gesicht, und fragte, wann er denn endlich wieder nach Hause könne. Ganz so, als ob seine Lebensgefährtin noch am Leben wäre. Als gäbe es die Polizisten vor seinem Zimmer nicht, die nur seinetwegen da waren, damit er niemanden verletzt oder flieht.

Unzählige Straftäter habe ich bis heute betreut und gesund gepflegt. Mörder, Schläger, Dealer und Diebe. Menschen, die betrunken Auto gefahren sind und andere totgefahren haben. Harter Tobak – der auch für mich manchmal schwer zu ertragen war. Aber ein Fall, der mir moralisch und menschlich alles abverlangt hat, was man einer Pflegekraft abverlangen kann, war der eines Kinderschänders.

Dieser hatte, wie sich während meiner Schicht herausstellte, in der Vergangenheit mehrere Kinder missbraucht. Er kam zu uns auf die Intensivstation, weil er sich und seine Genitalien mit einem Messer verstümmelt hatte. Offenbar wollte er den Körperteil loswerden, mit dem er das Leben Unschuldiger zerstört hatte. Die Rechnung ging nicht auf. Unsere Chirurgen haben rekonstruiert, was zu retten war. Niemand kann sich vorstellen, wie schwer es mir fiel, diesem Mann in die Augen zu sehen. Ausgerechnet den Teil seines Körpers jeden Tag neu zu verbinden, darauf zu achten, dass er sich nicht entzündet, dass er gut verheilt, mit dem dieser Mensch so viel Leid, so viel Zerstörung angerichtet hat.

Viele werden sich jetzt fragen, wie kannst du nur? Wie hältst du das aus? Aber genau das ist mein Job. Ich pflege Menschen. Auch die, die von der Gesellschaft geächtet werden. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht manchmal darüber nachdenke, dass dieser Mensch vor mir ein „perverses Dreckschwein“ ist. Aber das sind Gedanken, die ich mit mir selbst ausmache. Gedanken, die ich mein Gegenüber nicht spüren lasse. Es ist nicht meine Aufgabe als Intensivpfleger, Menschen anzuklagen und zu verurteilen, dafür haben wir Richter und Staatsanwälte. Jeder Mensch hat das Recht auf eine angemessene medizinische und pflegerische Behandlung und wird von mir immer gleich behandelt, ohne Wenn und Aber.

Es spielt keine Rolle, wie alt er ist, welche politische Überzeugung er hat, wo seine Wurzeln liegen oder unter welcher Nummer er Gott anruft. Wer das nicht kann, hat in diesem Beruf nichts zu suchen. Dieses Credo prägt bis heute auch mein Privatleben. Egal ob Politiker, Punk, Rocker oder der ältere Herr von nebenan. Ich begegne allen mit Respekt. Einen kleinen Unterschied zum Berufsleben gibt es allerdings doch: Ist mir jemand unsympathisch, nehme ich meine Sachen, lächle und gehe ihm einfach aus dem Weg.

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Ricardo Lange: Wie mich auf der Intensivstation das Lächeln eines Mörders irritierte

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03.02.2024

Kranke und Verletzte, darunter immer wieder auch Mörder, Vergewaltiger und Kinderschänder – ein Krankenhaus ist ein Sammelbecken, in dem die unterschiedlichsten Menschen aus allen sozialen Schichten und unzählige Schicksale aufeinander treffen.

Jeder einzelne von ihnen wird von uns Ärzten und Pflegekräften versorgt und behandelt, und wir flicken auch diejenigen wieder zusammen, die anderen unsägliches Leid zugefügt oder gar das Leben geraubt haben.

Schon während meiner Ausbildung kam ich mit Menschen in Berührung, die ich vorher nur aus dem Fernsehen kannte. An den Drogendealer, der zur Überwachung auf der Intensivstation lag, während ich damals dort meinen praktischen Einsatz hatte, erinnere ich mich noch sehr gut. Der junge Mann hatte bei einer Polizeikontrolle mehrere in Alufolie eingewickelte Heroinkügelchen verschluckt, um die Beweise schnell verschwinden zu lassen. Ein Versteck auf Zeit, denn spätestens beim nächsten großen Toilettengang kommen die Kugeln wieder ans Tageslicht. So zumindest die Theorie.

Er kam zu uns, weil die Gefahr bestand, dass sich die Kugeln im Magen oder Darm öffnen und sein Leben beenden könnten. Mit Handschellen ans Bett gefesselt, bewacht von zwei bewaffneten Polizisten, die vor seinem Zimmer saßen, lag er da. Ich erhielt den Auftrag, seinen Stuhlgang zu überwachen und den Polizisten in........

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