Die deutsche Wirtschaft galt über Jahrzehnte als Goldstandard der EU. Die Industrie produzierte Maschinen und Chemieprodukte für den Weltmarkt, für Investoren galt Deutschland wegen der Schuldenbremse und der geringen Staatsverschuldung als Musterschüler. Doch das Blatt wendet sich. Durch den Ukrainekrieg wurde Deutschlands günstige Energieversorgung aus Russland gekappt – die Industrie verlor einen ihrer größten Wettbewerbsvorteile. Die „Zeitenwende“ fordert zudem hohe Militärausgaben, die den Staatshaushalt belasten.

Der einstige Motor der EU stottert. Da passt es gut, dass der wichtigste Verbündete auf dem Kontinent die helfende Hand ausstreckt. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat in einer Rede vor der Pariser Eliteuniversität Sorbonne am 25. April Reformvorschläge unterbreitet, wie Deutschland und Frankreich gemeinsam aus der Krise der Europäischen Union kommen können.

„Unser Europa ist sterblich, es kann sterben, und das hängt von unseren Entscheidungen ab“, warnte Macron. In Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich sitzen immer auch die Vereinigten Staaten mit am Tisch. Frankreich ist eine eigenständige Atommacht, Deutschland ist auf die Sicherheitsarchitektur der USA angewiesen. Die könnte bei einem Wahlsieg von Donald Trump zum Präsidenten im November zur Disposition stehen.

Macron hob hervor, die EU laufe Gefahr, zum „Vasallen“ der USA und zu einem „Zipfel des Westens“ degradiert zu werden. Trump im Hinterkopf, sagte Macron: „Europa muss das, was ihm am Herzen liegt, verteidigen können – mit seinen Verbündeten, wenn sie dazu bereit sind, aber auch allein, wenn es nötig ist.“ Frankreich werde seine Rolle bei der Verteidigung spielen, sagte Macron. Die nukleare Abschreckung, über die Frankreich verfüge, sei dabei „ein unumgängliches Element der Verteidigung des europäischen Kontinents.“

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„Neben dem amerikanischen und dem Nato-Schutzschirm schlägt Macron vor, noch einen europäischen zweiten Schirm zu spannen“, erläutert Jacob Ross, Experte für deutsch-französische Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), im Gespräch mit der Berliner Zeitung.

Macron skizzierte zudem eine gemeinsame europäische Rüstungspolitik. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius reiste am nächsten Tag nach Paris, um medienwirksam eine Absichtserklärung für ein deutsch-französisches Kampfsystem zu unterzeichnen. Das „Main Ground Combat System“ soll mittels künstlicher Intelligenz verschiedene Waffengattungen koordinieren und sogar unbemannt nutzbar machen. Bis 2040 soll es den bisherigen deutschen Panzer „Leopard“ und das französische Pendant „Leclerc“ ersetzen.

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Doch schnelle Fortschritte sind kaum zu erwarten. „Dieses Projekt ist schon sehr im Rückstand“, sagt Sicherheitsexperte Ross. Die deutsche und die französische Rüstungsindustrie seien sich in zentralen Bereichen spinnefeind. „Bei der Entwicklung des Kampfpanzers gibt es großen Streit zwischen Rheinmetall auf der deutschen Seite und Nexter auf französischer Seite“, sagt Ross. Momentan, im Kontext des Ukrainekriegs, sei jedes Unternehmen sehr darauf bedacht, einen möglichst großen Teil des europäischen Kuchens der steigenden Rüstungsausgaben abzubekommen. Dadurch steige auch das Misstrauen gegenüber engen Partnern.

Weiter verkompliziere sich der Aufbau einer eigenständigen europäischen Sicherheitsarchitektur, weil die Franzosen auf eine stärkere Unabhängigkeit der USA drängten. Davon könne in Deutschland keine Rede sein. „Es ist die absolute Norm, über Rüstungskäufe bei den Amerikanern auch politische Ziele zu erreichen und das transatlantische Bündnis zu stärken“, sagt DGAP-Experte Ross.

Macron forderte in seiner Rede auch eine Reform der europäischen Geld- und Finanzpolitik. Europäische Souveränität ist nach dem Willen Frankreichs nur zu erreichen, wenn Europa gemeinsame Staatsanleihen ausgibt. In der Coronakrise war der Kontinent in dieser Hinsicht zusammengerückt.

Die Bundesregierung sperrt sich vehement gegen die Aufnahme gemeinsamer Schulden. 2020 gilt in Berlin als Ausnahme, Paris will es zur Regel werden lassen. Macron hob genüsslich hervor, dass es Olaf Scholz war, der als Finanzminister im Kabinett von Angela Merkel die Einigung als „Hamilton-Moment“ bezeichnet habe. Alexander Hamilton gilt als Gründungsvater der USA. Es heißt, dass Macron hinter den Kulissen den früheren Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, für das Amt des EU-Kommissionschefs in Stellung bringt. Draghis Euro-Rettungsprogramme nach 2012 waren deutschen Politikern und Bankern ein Dorn im Auge.

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Macron schlug auch eine Reform der EZB vor. Künftig soll neben der von Deutschland penibel überwachten Preisstabilität auch das Wirtschaftswachstum als Zielgröße der Geldpolitik gelten. Regierungssprecher Steffen Hebestreit kommentierte kurz und knapp: In Fragen der EZB gebe es in Frankreich und Deutschland „sehr unterschiedliche“ Positionen.

Bahnt sich ein Umbruch auf dem Kontinent an? „Auf der europäischen Ebene verschieben sich die Kräfteverhältnisse“, sagt der Politikwissenschaftler Felix Syrovatka, der am Institut Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen lehrt, im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Der Brexit habe die französische Position gestärkt: „Deutschland hatte meistens die Briten mit an Bord, wenn sie exportorientierte Reformen durchsetzen wollten.“

Seit dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU habe sich aber der Wind gedreht. Die nordischen Länder, Deutschland und die baltischen Staaten, die in Abstimmungen traditionell an einem Strang ziehen, haben im Europäischen Rat keine Mehrheit mehr. „Das Stimmengewicht hat sich zugunsten der südeuropäischen Staaten verschoben. Und Frankreich ist die Stimme des Südens geworden“, sagt Syrovatka, Experte für die politische Ökonomie der europäischen Integration.

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Frankreich habe ein großes Interesse an Südeuropa, weil die französische Wirtschaft, vor allem französische Banken, dort stark engagiert seien. „Die deutschen Banken haben in den 1990er-Jahren angefangen, auf Investmentbanking zu setzen und das Privatkundengeschäft vernachlässigt“, erklärt Syrovatka. „Das ist den deutschen Banken in der Finanzkrise 2008 und später in der Eurokrise auf die Füße gefallen.“

Die französischen Banken hätten hingegen den europäischen Binnenmarkt genutzt, um das Privatkundengeschäft auszubauen. Banken wie BNP Paribas sind in den südeuropäischen Ländern sehr aktiv und haben auch große Banken im Ausland aufgekauft. „Das war einer der Gründe, weshalb Frankreich immer gegen den Grexit – den Ausstieg Griechenlands aus dem EU-Binnenmarkt – war. Paris wusste, wenn das passiert, dann wackeln die französischen Banken“, sagt Syrovatka.

Das deutsch-französische Verhältnis bleibt ein Austarieren von wirtschaftlichen und militärischen Machtansprüchen. Die amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen würdigte Macron übrigens mit keinem Wort. So wie umgekehrt die Bundesregierung versucht, Macrons Vorschläge bei seinem Sorbonne-Auftritt unter den Teppich zu kehren.

QOSHE - Deutschland oder Frankreich: Wer gibt künftig in Europa den Ton an? - Simon Zeise
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Deutschland oder Frankreich: Wer gibt künftig in Europa den Ton an?

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04.05.2024

Die deutsche Wirtschaft galt über Jahrzehnte als Goldstandard der EU. Die Industrie produzierte Maschinen und Chemieprodukte für den Weltmarkt, für Investoren galt Deutschland wegen der Schuldenbremse und der geringen Staatsverschuldung als Musterschüler. Doch das Blatt wendet sich. Durch den Ukrainekrieg wurde Deutschlands günstige Energieversorgung aus Russland gekappt – die Industrie verlor einen ihrer größten Wettbewerbsvorteile. Die „Zeitenwende“ fordert zudem hohe Militärausgaben, die den Staatshaushalt belasten.

Der einstige Motor der EU stottert. Da passt es gut, dass der wichtigste Verbündete auf dem Kontinent die helfende Hand ausstreckt. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat in einer Rede vor der Pariser Eliteuniversität Sorbonne am 25. April Reformvorschläge unterbreitet, wie Deutschland und Frankreich gemeinsam aus der Krise der Europäischen Union kommen können.

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