Als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine wurden Russland erhebliche Finanz- und Wirtschaftssanktionen auferlegt. Russland wurde vom Dollarhandel abgeschnitten, Vermögenswerte sind im Ausland eingefroren, die EU strebt an, auf russische Energieimporte völlig zu verzichten. Doch die russische Wirtschaft steht trotz der umfangreichen Sanktionen so stark da wie kaum eine andere Volkswirtschaft der Welt. Der renommierte amerikanische Ökonom James K. Galbraith erklärt im Gespräch mit der Berliner Zeitung, wie Russland es gelungen ist, seine Wirtschaft zu schützen, und warum Deutschland wegen der falschen Wirtschaftspolitik ein schmerzvoller Abstieg droht.

Herr Galbraith, die Vereinigten Staaten und die EU haben wegen der russischen Invasion in der Ukraine seit dem Frühjahr 2022 umfassende Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Es wurde prognostiziert, dass die russische Wirtschaft unter dem Druck der Sanktionen kollabieren würde. Doch mittlerweile wächst die russische Wirtschaft erheblich. Wieso ist es dazu gekommen?

Es gibt zwei Interpretationen dafür. Die eine ist, dass die Sanktionen nicht gewirkt haben. Die andere ist, dass die Sanktionen doch eine Wirkung zeigten, aber ganz anders als erwartet. Die zweite Erklärung ist die richtige: Die Sanktionen hatten eine dramatische Wirkung auf die russische Wirtschaft. Darin sind sich sowohl westliche als auch russische Vertreter einig. Aber die westlichen Initiatoren der Sanktionen konnten sich nicht vorstellen, dass die russische Wirtschaft in der Lage sein würde, sich an die Sanktionen anzupassen.

Wie gelang es der russischen Regierung, die Sanktionen abzuwehren?

Russland stabilisierte das eigene Finanzsystem, das durch die Abkopplung vom Swift-Zahlungssystem einem Schock ausgesetzt war. Der anfängliche Rückgang des Rubels wurde schnell aufgefangen. Lieferketten in der Industrie, die durch die Sanktionen unterbrochen worden waren, wurden wieder hergestellt. Komponenten für Autos, Flugzeuge, Geräte und Maschinen, die zuvor von westlichen Unternehmen bereitgestellt worden waren, wurden nun von russischen Firmen und von Unternehmen aus anderen befreundeten Staaten hergestellt. Was also geschah, war, dass russische Unternehmen in den Markt vordrangen, den westliche Unternehmen freiwillig oder gezwungenermaßen aufgeben mussten. Dadurch ergaben sich für einheimische Unternehmen beträchtliche Gewinnmöglichkeiten. Russland ist heute eines der Länder mit der höchsten Wachstumsrate der Welt.

Würden Sie sagen, dass Russland letztendlich von den Sanktionen sogar profitiert hat?

Ja, Russland wurde durch die Sanktionen effektiv entkolonialisiert. Vor fünf Jahren war das wirtschaftliche Leben fest in der Hand westlicher Unternehmen: die Gastronomie, die großen Einkaufsläden, die Autos auf der Straße. Das ändert sich derzeit. Die Industriekapazitäten verschwanden nicht. Fabriken, Arbeiter, Ingenieure und Manager waren im Land ausreichend vorhanden. Was benötigt wurde, war Design und Equipment. Besonders chinesische Autobauer bauten ihr Engagement in Russland stark aus. Sie übernahmen Produktionslinien, die zuvor von deutschen und japanischen Unternehmen betrieben wurden.

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Die USA haben die nukleare Option auf den Finanzmärkten gezogen. Guthaben der russischen Zentralbank wurden eingefroren und Russland wurde vom Dollarsystem abgeschnitten. Ist es unter diesen Umständen überhaupt möglich, mit den großen Industriestaaten auf den Weltmärkten zu konkurrieren?

Nun, kurzfristig haben diese Maßnahmen zu einer Störung der russischen Wirtschaft geführt. Aber Russland war seit 2014 mit Sanktionen belegt. Die nukleare Option, die Abkopplung vom Dollarsystem und das Einfrieren von Vermögenswerten war schon im Vorfeld angedroht worden. Die Russen haben sich offensichtlich auf die Möglichkeit vorbereitet. Infolgedessen verfügten sie über alternative Zahlungsmechanismen, die in recht kurzer Zeit funktionierten.

Russland hat keinen Zugang mehr zum US-Dollar, führt aber dadurch immer mehr Handel mit anderen Staaten in alternativen Währungen durch. Führt dies nicht dazu, dass das Handelsvolumen am Dollarmarkt sinkt?

Unter dem Druck der Sanktionen ist eine Zone entstanden, in der weder Dollar noch Euro eine Rolle spielen. Zum Beispiel wird der Handel zwischen Russland und China jetzt fast ausschließlich in Rubel und Renminbi abgewickelt. Das gilt auch für den russischen Handel mit anderen Ländern. In der Tat ist das eine Schwächung der Position des Dollars in der Weltwirtschaft. Dann gibt es noch ein zweites Problem, nämlich die Frage, welche Währung künftig als globale Reservewährung bestehen wird. Bislang ist es im Wesentlichen der Dollar und in zweiter Linie der Euro.

China ist der wohl wichtigste Verbündete Russlands. Peking hat die westlichen Sanktionen gegen Russland nicht anerkannt. Treibt China die Dedollarisierung maßgeblich voran?

Die Sanktionen beschleunigen den Abzug von Dollarguthaben. Einige Länder, insbesondere China, haben Reserven an Erdöl, Nickel, Eisen, Kupfer und anderen Rohstoffen angelegt. Ich interpretiere diesen Schritt so, dass die Chinesen eine Absicherung in der Hinterhand haben wollen, falls der Westen dazu übergeht, chinesische Vermögenswerte einzufrieren. Viele Länder müssen mittlerweile befürchten, dass ihre Vermögenswerte, die sie in Form von Dollar- und Euroreserven oder amerikanischen Staatsanleihen angelegt haben, beschlagnahmt werden. Deswegen werden Assets, die nicht von den USA und der EU beschlagnahmt werden können, für viele Staaten attraktiver. Gleichzeitig verlieren der Dollar und der Euro ihre starke Stellung.

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Die Vereinigten Staaten haben ihre Sanktionen gegen Drittländer verschärft. Sogenannte Sekundärsanktionen sollen den Handel von Staaten mit Russland einschränken. Schränken die Maßnahmen die russische Wirtschaft ein?

Die Sanktionen haben wirklich drastische Auswirkungen auf kleine Volkswirtschaften. In Kuba zum Beispiel ist die Situation schlimm, weil die Sanktionen der USA die Europäer davon abhalten, nach Kuba zu reisen und Handel mit dem Land zu treiben. Aber die Auswirkungen auf Russland sind ganz andere. Russland ist ein sehr großes Land, das reich an Ressourcen ist, über Wissenschaftler, Ingenieure und enorme Geschäftskapazitäten verfügt. Es hat sich von den chaotischen Zuständen in den 1990er-Jahren weitgehend erholt. Und es ist in hohem Maße darauf vorbereitet, mit den Auswirkungen der Sanktionen fertig zu werden. Die Sanktionen haben der russischen Wirtschaft eine größere Autonomie und einen größeren Handlungsspielraum verschafft.

In Europa, insbesondere Deutschland, sind die Energiepreise im Zuge der gegen Russland verhängten Sanktionen sehr stark gestiegen. Wäre es im Interesse Europas, die Sanktionen aufzuheben?

Die deutsche Regierung betreibt meiner Ansicht nach eine Politik, deren Hauptopfer die deutsche Wirtschaft ist. Sie hat sich von wirtschaftlichen Quellen abgeschnitten, insbesondere von Energie und anderen Materialien, auf die die deutsche Industrie angewiesen ist. Es droht ein historischer Einbruch der deutschen Industriekapazitäten. Mittlerweile wird es schwierig, diese Nachteile wieder wettzumachen, weil die deutsche Wirtschaft schon so viel an Boden verloren hat. Selbst wenn die deutsche Regierung bereit wäre, zu einer effektiven Wirtschaftsanalyse überzugehen, dürfte sie den Schaden, den sie der deutschen Wirtschaft zugefügt hat, wohl kaum wirksam reparieren können. Die Russen haben an Deutschland als Hauptkunden für ihre Rohstofflieferungen das Interesse verloren. Also erschließen sie neue Märkte in ganz Eurasien, vor allem in China. Sie haben sich mit der Tatsache abgefunden, dass die Erdgaslieferungen in Europa stark eingeschränkt, wenn nicht sogar ganz abgeschnitten sind. Die Russen werden ihre Ressourcen nutzen, um ihre eigene Industrie zu entwickeln und die ihrer Partner zu unterstützen.

Europa leidet unter den westlichen Sanktionen. Inwiefern können die USA aus der Auseinandersetzung mit Russland Profit erzielen?

Die USA haben sich selbst durch die Sanktionen weniger geschadet als Europa. Der Grund dafür ist, dass die Vereinigten Staaten im Moment weitgehend autark sind. Bei Energieressourcen sind sie noch auf russische Lieferungen angewiesen, zum Beispiel bei Uran. Aber die amerikanische Wirtschaft ist nicht so anfällig wie die europäische Wirtschaft für den Verlust der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland. Wir werden sehen, ob das Gleiche gilt, wenn die Sanktionspolitik mit gleicher Kraft auf China angewandt wird. Denn die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und China sind viel enger, als sie es zwischen den USA und Russland waren. Aber bis jetzt haben die USA den Vorteil, dass die Auswirkungen der Sanktionen hauptsächlich unsere europäischen Partner treffen und nicht die amerikanische Wirtschaft selbst.

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Durch den Ukrainekrieg und die westlichen Sanktionen teilt sich die Handelswelt immer mehr in zwei Lager. Erreicht das Zeitalter der Globalisierung langsam sein Ende?

Das Interessante ist doch, dass auch während der zunehmenden Konfrontation der Handel in wichtigen Wirtschaftsbereichen fortgesetzt wird. Russland liefert zum Beispiel immer noch sehr viel Energie nach Europa. Es ist nur so, dass russisches Öl einen Umweg über Handelspartner wie Indien nehmen muss. Indien zieht daraus einen Vorteil, weil es für das Öl einen Aufpreis nehmen kann. Ich würde nicht sagen, dass die Globalisierung am Ende ist. Aber die relativen Vorteile, die Westeuropa und insbesondere Deutschland als führende Zentren für Exzellenz im Ingenieurwesen, in der Chemie- und Stahlindustrie und in der Automobil- und Maschinenindustrie hatten, sind wegen der steigenden Rohstoffkosten und dem verringerten Zugang zu ausländischen Märkten ernsthaft gefährdet.

Donald Trump prahlt damit, dass er den Ukrainekrieg schnell beenden werde, falls er erneut ins Weiße Haus einzieht. Werden sich die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland verbessern, wenn Trump erneut Präsident wird?

Ich bezweifele es. Als Trump das letzte Mal im Weißen Haus war, gab es zwar einen Wechsel in der Rhetorik gegenüber Russland. Aber die Maßnahmen, die bereits in der Obama-Regierung ergriffen worden waren, wurden nicht zurückgenommen. Ich denke nicht, dass der amerikanische Präsident die dominierende Rolle bei der Entscheidung über diese Angelegenheiten spielt. Es besteht ein enormer politischer Druck in den Vereinigten Staaten, der immer in Richtung einer außenpolitischen Verschärfung geht. Es erfordert wirklich viel Mut und präsidiale Initiative, sich dem entgegenzustellen und auf einen Abbau der Spannungen zu drängen. Ich habe nicht den Eindruck, dass Trump die Fähigkeit dazu hat.

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Ökonom James K. Galbraith: Russland wurde durch die Sanktionen effektiv entkolonialisiert

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13.05.2024

Als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine wurden Russland erhebliche Finanz- und Wirtschaftssanktionen auferlegt. Russland wurde vom Dollarhandel abgeschnitten, Vermögenswerte sind im Ausland eingefroren, die EU strebt an, auf russische Energieimporte völlig zu verzichten. Doch die russische Wirtschaft steht trotz der umfangreichen Sanktionen so stark da wie kaum eine andere Volkswirtschaft der Welt. Der renommierte amerikanische Ökonom James K. Galbraith erklärt im Gespräch mit der Berliner Zeitung, wie Russland es gelungen ist, seine Wirtschaft zu schützen, und warum Deutschland wegen der falschen Wirtschaftspolitik ein schmerzvoller Abstieg droht.

Herr Galbraith, die Vereinigten Staaten und die EU haben wegen der russischen Invasion in der Ukraine seit dem Frühjahr 2022 umfassende Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Es wurde prognostiziert, dass die russische Wirtschaft unter dem Druck der Sanktionen kollabieren würde. Doch mittlerweile wächst die russische Wirtschaft erheblich. Wieso ist es dazu gekommen?

Es gibt zwei Interpretationen dafür. Die eine ist, dass die Sanktionen nicht gewirkt haben. Die andere ist, dass die Sanktionen doch eine Wirkung zeigten, aber ganz anders als erwartet. Die zweite Erklärung ist die richtige: Die Sanktionen hatten eine dramatische Wirkung auf die russische Wirtschaft. Darin sind sich sowohl westliche als auch russische Vertreter einig. Aber die westlichen Initiatoren der Sanktionen konnten sich nicht vorstellen, dass die russische Wirtschaft in der Lage sein würde, sich an die Sanktionen anzupassen.

Wie gelang es der russischen Regierung, die Sanktionen abzuwehren?

Russland stabilisierte das eigene Finanzsystem, das durch die Abkopplung vom Swift-Zahlungssystem einem Schock ausgesetzt war. Der anfängliche Rückgang des Rubels wurde schnell aufgefangen. Lieferketten in der Industrie, die durch die Sanktionen unterbrochen worden waren, wurden wieder hergestellt. Komponenten für Autos, Flugzeuge, Geräte und Maschinen, die zuvor von westlichen Unternehmen bereitgestellt worden waren, wurden nun von russischen Firmen und von Unternehmen aus anderen befreundeten Staaten hergestellt. Was also geschah, war, dass russische Unternehmen in den Markt vordrangen, den westliche Unternehmen freiwillig oder gezwungenermaßen aufgeben mussten. Dadurch ergaben sich für einheimische Unternehmen beträchtliche Gewinnmöglichkeiten. Russland ist heute eines der Länder mit der höchsten Wachstumsrate der Welt.

Würden Sie sagen, dass Russland letztendlich von den Sanktionen sogar profitiert hat?

Ja, Russland wurde durch die Sanktionen effektiv entkolonialisiert. Vor fünf Jahren war das wirtschaftliche Leben fest in der Hand westlicher Unternehmen: die Gastronomie, die großen Einkaufsläden,........

© Berliner Zeitung


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