Anders als in Deutschland wird in den USA intensiv über einen Ausgang des Ukrainekriegs debattiert. In einer ausführlichen Analyse für den Think Tank Quincy Institute for Responsible Statecraft hat nun der Historiker Mark Episkopos eine realistische Aussicht auf den weiteren Kriegsverlauf skizziert. Dabei arbeitet er die Interessen Russlands, der Ukraine und des Westens heraus und leitet daraus Handlungsoptionen ab.

Episkopos kritisiert, dass es den USA und den Europäern an einer kohärenten Strategie fehle. Bislang versteiften sie sich auf das Leitprinzip: Russland darf in der Ukraine keinen Sieg davontragen. Ansonsten werde Moskau seine Angriffe auch noch auf Nato-Mitglieder in Europa ausdehnen. Die Diskussion habe sich auf „alarmistische Vorhersagen konzentriert, die mehr verschleiern, als sie über die russischen Absichten und Fähigkeiten aussagen“, schreibt Episkopos.

Ein genauerer Blick auf mögliche Szenarien in der Ukraine zeige aber, dass ein vollständiger Sieg Russlands nicht in Moskaus Interesse liege. „Nach Ansicht westlicher Offizieller kann Moskau diesen Krieg einfach dadurch gewinnen, dass es die ukrainischen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld besiegt“, schreibt der Analyst. Auf den ersten Blick scheine dies eine vernünftige Interpretation der Ziele eines kriegführenden Staates zu sein, aber bei näherer Betrachtung falle diese vereinfachte Darstellung des Konflikts schnell auseinander.

Was würde passieren, wenn die ukrainischen Verteidigungslinien zusammenbrechen würden, fragt der Autor, und was, wenn die russischen Streitkräfte in der Lage wären, die Ukraine zu überrollen?

Selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte an der Front endgültig aufgerieben würden, sei die Belagerung ukrainischer Hochburgen wie Charkiw und Saporischschja, ganz zu schweigen von Kiew und Odessa, eine enorme Herausforderung für die russische Armee, schreibt Episkopos. „Die monatelangen Kämpfe um die weitaus weniger bedeutenden Städte Mariupol und Bachmut bieten einen kleinen, aber dennoch erschütternden Vorgeschmack auf die Folgen einer solchen Belagerung“, so der Autor. „Die Besetzung der gesamten Ukraine wäre für Russland schon kurzfristig unerschwinglich, ganz zu schweigen von einer längeren oder unbestimmten Zeit.“

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Der Westen dürfte in dieser Lage versuchen, die Kosten in die Höhe zu treiben, indem er Partisanenaktivitäten in der gesamten Ukraine, vor allem aber in der westlichen Hälfte des Landes, finanziert und koordiniert, heißt es weiter. Schließlich gebe es mit der Ukrainischen Aufständischen Armee, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu fünf Jahre lang Widerstand gegen die sowjetischen Behörden leistete, einen historischen Präzedenzfall für solche Aktivitäten.

Diese nationalistische Einheit, auch Bandera-Fraktion genannt, wurde 1942 gegründet, paktierte mit Hitler-Deutschland und kämpfte bis 1956 für die Ukrainische Sowjetische Sowjetrepublik. In Polen wird die Gruppe heute als „verbrecherische Organisation“ bezeichnet, weil sie sich dem „Genozid an der polnischen Bevölkerung“ schuldig gemacht habe. Das ukrainische Parlament hat Kämpfer der Gruppe als „Unabhängigkeitskämpfer“ geehrt.

Vor dem Einmarsch Russlands in der Ukraine hätten westliche Kommentatoren darauf gedrängt, diesen Konflikt in „Putins Afghanistan“ zu verwandeln, schreibt Episkopos. Ukrainische Partisanen hätten dabei die Rolle der Mudschaheddin-Kämpfer der 1980er Jahre spielen sollen. Diese Vorschläge wurden verworfen, weil die ukrainische Regierung in den ersten Wochen nach dem russischen Einmarsch nicht zusammenbrach. Bei einem russischen Versuch, die gesamte Ukraine einzunehmen, würde es aber wahrscheinlich zu langwierigen Aufständen kommen, heißt es in der Analyse.

Der Zusammenbruch der Ukraine erhöhe aber auch die Risiken eines direkten Zusammenstoßes zwischen Russland und dem Westen. Die Errichtung einer De-facto-Grenze zwischen Ostpolen und der von Russland besetzten Westukraine würde einen gefährlichen Krisenherd schaffen. Weil es keine funktionierenden Deeskalationskanäle zwischen dem Westen und Russland gebe, könnte es schnell zu einem heißen Krieg an der Nato-Ostflanke kommen.

Moskau habe nicht die Absicht, einen Eroberungskrieg gegen Polen, die baltischen Staaten oder andere Nato-Staaten zu führen, schreibt der Autor. Aber es sei sicherlich bestrebt, den USA und ihren Verbündeten eine Reihe strategischer Zugeständnisse abzuringen. Darunter dürfte eine teilweise Rücknahme der Nato-Osterweiterung und die Begrenzung der Truppenstationierung an der Ostflanke der Nato gehören.

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Der Ukrainekrieg sei aus russischer Sicht ein Stellvertreterkrieg. Der Kriegsverlauf werde darüber entscheiden, welche Zugeständnisse die USA und die EU Moskau geben werden. Der Autor ist aber skeptisch, ob die westlichen Staatschefs die Sicherheitsbedingungen Moskaus erfüllen werden. Es bestehe sogar die Möglichkeit, dass ein Zusammenbruch der Ukraine die Bereitschaft der westlichen Staats- und Regierungschefs zu substanziellen Gesprächen mit Moskau noch geringer werde.

Es lasse sich zusammenfassen: „Russland hat wenig zu gewinnen und viel zu verlieren, wenn es in der Ukraine gewinnt“ - wenn man unter „gewinnen“ die Besetzung der gesamten Ukraine verstehe. Der Kern der russischen Strategie bestehe darin, „seine wachsenden Vorteile als Druckmittel für Verhandlungen mit dem Westen zu nutzen“, heißt es in dem Artikel. Angesichts dieser Bedingungen habe der Kreml bereits angedeutet, entmilitarisierte Pufferzonen in der Ukraine einzurichten, die nicht unter russischer Kontrolle stehen.

„Unabhängig davon, was in den kommenden Wochen und Monaten auf dem Schlachtfeld geschieht, hat Moskau etwas begonnen, das es nicht einseitig beenden kann“, schreibt Episkopos. „Dies verleiht den USA einen enormen Einfluss auf die Gestaltung der Kriegsbeendigung - Washington und seine Verbündeten sollten ihn jetzt nutzen, um diesen Krieg zu den bestmöglichen Bedingungen für den Westen und die Ukraine zu beenden.“

QOSHE - Welche Ziele hat Russland in der Ukraine? Prägnante Analyse aus den USA - Simon Zeise
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Welche Ziele hat Russland in der Ukraine? Prägnante Analyse aus den USA

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11.05.2024

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Episkopos kritisiert, dass es den USA und den Europäern an einer kohärenten Strategie fehle. Bislang versteiften sie sich auf das Leitprinzip: Russland darf in der Ukraine keinen Sieg davontragen. Ansonsten werde Moskau seine Angriffe auch noch auf Nato-Mitglieder in Europa ausdehnen. Die Diskussion habe sich auf „alarmistische Vorhersagen konzentriert, die mehr verschleiern, als sie über die russischen Absichten und Fähigkeiten aussagen“, schreibt Episkopos.

Ein genauerer Blick auf mögliche Szenarien in der Ukraine zeige aber, dass ein vollständiger Sieg Russlands nicht in Moskaus Interesse liege. „Nach Ansicht westlicher Offizieller kann Moskau diesen Krieg einfach dadurch gewinnen, dass es die ukrainischen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld besiegt“, schreibt der Analyst. Auf den ersten Blick scheine dies eine vernünftige Interpretation der Ziele eines kriegführenden Staates zu sein, aber bei näherer Betrachtung falle diese vereinfachte Darstellung des Konflikts schnell auseinander.

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© Berliner Zeitung


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