Alle sind sie ins Maschinenhaus für Artemas gekommen: Jasmin, 19, Emil, 20, aus München, die beiden schmusen schon miteinander, noch bevor das Artemas-Konzert überhaupt beginnt. Auch Hannah, 20, aus Nashville und Austin, 21, aus Seattle, sind zugegen. Berliner Austauschstudenten aus den USA. Auch Rosa, 19, und Anna, 22, aus Berlin – sowie Janko, 17, und seine Freundin Pauline, 16. Für den 18-jährigen Nikita mit mittellangen, dunkelblonden Haaren, aus der Ukraine, ist es sogar das erste Konzert seines Lebens, wie er uns erzählt. Alles wegen Artemas.

Riesige Spannung also, als der zypriotische Brite von gerade mal 23 Jahren, die Bühne im Berliner Kesselhaus besteigt an diesem draußen kalten Frühlingsdonnerstagabend. Obergeschoss, Maschinenhaus. Rund 200 Leute passen ins lauschige Ost-Berliner Backsteingemäuer rein. Rot und blau bestrahlt. Eigentlich viel zu wenige. Denn Artemas ist zurzeit der meistgehypte Überflieger-Musiker der Welt: Nicht „nur“ Platz 1 der deutschen Single-Charts hat Artemas in dieser Woche erklommen; nein, eben jener Song, „I Like The Way You Kiss Me“, ist gerade das (hört, hört!) meistgespielte Lied der Welt. Der Welt, richtig, nicht weniger als das. Vor Ariana Grande, Beyoncé und Taylor Swift und allen anderen sowieso.

Porno-Schnauzer, Vokuhila, Klunker-Ohrring, braune Lederjacke, so tritt Artemas in Berlin auf. Schwarzes, mit drei weißen Balken dekoriertes Adidas-Korn-Metalband-Fanshirt. Es ist kurz nach 21 Uhr und Artemas legt los mit „Enemies“, derweil er die Bühnenrampe von links nach rechts und wieder umgekehrt abschreitet, sichtlich Bock auf Publikumsnähe habend. Das wirbelnde Schlagzeug zu seiner linken und die heftig verzerrte elektrische Gitarre zu seiner rechten, geht Artmas’ frech schmachtende Tenorstimme anfangs fast ein wenig unter, während er uns in dem Text des Liedes vorschlägt, „so zu bumsen wie Feinde“: kein Vertrauen, keine Rückfragen vonnöten. Das geht ja heiter los, die Crowd liebt es schon jetzt.

Dann der Kontrapunkt: „Ur Special to Me“. Doch keine Feinde also, sondern ganz was Besonderes sind wir für Artemas. Special eben. Die geschmeidige Tenor-Stimme von Artemas schwingt sich dabei in himmlische Höhen, fast so high wie die glamouröse Disco-Kugel an der Decke im Maschinenhaus. „Es ist mein erstes Mal in Berlin, danke, dass ihr da seid“, lobsalbt Artemas die junge Menschenmenge im Maschinenhaus.

•vor 7 Std.

•gestern

24.04.2024

Zu „You Were A Dream“ gerät das sexy Gitarrensolo ausgesprochen grungy. Es passt blendend – hat Artemas doch einst als Teenager mit all der Musik begonnen aus Faszination vor Kurt Cobain von und im Nirvana. Wie Artemas bei seiner Berlin-Performance im Maschinenhaus die Augen verdreht – es ist, als wollte er mit allen zugleich Liebe machen. „Wie geht’s euch? Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Der junge Mann kann seinen Welt-Erfolg sichtbar noch gar nicht fassen, seiner Entertainer-Skills sind noch blutjung. Woran es aber keinen Zweifel gibt: Artemas hat allen Bock, mit uns zu feiern in Berlin in dieser Nacht draußen kalten, innen mittlerweile heißen Nacht.

Zu „Breath Away“ biegt sich Artemas roboterhaft nach links. Die Background-Vocals stammen vom Band, und auch die Mitsing-Künste der Berliner Schar sind weit entfernt von Perfektion, egal: Es fühlt sich trotzdem wie eine phantastische Party an, wiewohl es erst Donnerstagabend ist. Und es ist mit diesen krachigen Gitarren, verdammt noch mal, ein Rock-Konzert, kein betäubtes TikTok-Gesäusel. Obwohl Artemas tatsächlich genau über diese Plattform derart populär wurde: Mehr als zwei Millionen TikTok-Videos haben User inzwischen mit „I Like The Way You Kiss Me“ unterlegt. Eine schwindelerregende Größenordnung, selbst für TikTok. Artemas, das ist der neue Goldstandard.

„I'll Make You Miss Me“ ist die Zungenkuss-Ballade dieses Abends, Emil und Jasmin wissen Bescheid. Trotz noisy Gitarren große Emo-Romantik. „Danke, Berlin, ihr seid krank“, schwört Artemas und meint es zweifelsohne als Loborgie. „Just Want U To Feel Something“ beginnt Artemas mit einem A-cappella-Intro aus „Kiss“ von Prince (der Pop-Gott habe ihn selig). Prince und „Kiss“ scheinen die Popkids heute Abend nicht zu kennen, aber eins verstehen spürbar trotzdem alle: Die Kopfstimme hier von Artemas, sie ist seine Sache des Herzens.

„Geht’s euch gut, bin ich laut genug?“, will Artemas von Berlin wissen. „Wir lieben dich, du bist amazing“, hallt es ihm zurück. Für „Too Slow“ ergattert er den ziemlich größten Applaus des Abends, und „Alone...“ dreht dann so richtig wild frei. Artemas kniet nieder vor dem Berlin-Publikum und zischt sich dann gepflegt ein Mineralwasser ins Hirn oder zumindest in die Kehle, prost! „Fucked Up Kinda Dream“ hat das Zeug zum nächsten Melancolia-Disco-Megahit à la The Weeknd. Zu „If U Think I'm Pretty“ singen sowieso alle mit.

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Doch dann kommt der Song, auf den sie wirklich alle warten: „I Like The Way You Kiss Me“, das finale Lied des Abends in Berlin. Erst vor wenigen Wochen ist der Knutsch-und-Bums-Song weltweit viral gegangen, erst vor wenigen Tagen hat ihn Artemas zum ersten Mal vor Publikum gespielt, beim Coachella-Festival in der kalifornischen Wüste. Berlin ist also weltweit ganz schön vorne dran. Wie würde er das live anstellen, dieser Artemas, mit diesem Wahnsinnssong, der doch für einen globalen Nummer-Eins-Hit erstaunlich eckig und auch kantig ist und sowieso ein Hybrid zwischen Hyperpop-Techno und Avantgarde-RnB?

Die hochgepitche anonyme Sängerin der Studioaufnahem, sie fehlt heute Abend in Berlin. Doch sie fehlt nicht wirklich. Denn Artemas füllt alles aus. Er hat das Charisma und auch die Stimme dazu. Die Gitarre rastet noch mal hemmungslos aus. Tschüss, TikTok, wir sind im sexy-wilden Berlin angekommen, hardcore-noisy. „Fuck yeah“, ruft Artemas lasziv aus, und wir alle wissen es: Er, dieser Artemas, er mag, wie wir ihn küssen, und wir mögen, wie er uns küsst, alles eine Metapher der Münder, freilich, nicht mehr, aber auch kein bisschen weniger.

QOSHE - Artemas beim Berlin-Konzert im Maschinenhaus: Er mag, wie wir ihn küssen - Stefan Hochgesand
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Artemas beim Berlin-Konzert im Maschinenhaus: Er mag, wie wir ihn küssen

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26.04.2024

Alle sind sie ins Maschinenhaus für Artemas gekommen: Jasmin, 19, Emil, 20, aus München, die beiden schmusen schon miteinander, noch bevor das Artemas-Konzert überhaupt beginnt. Auch Hannah, 20, aus Nashville und Austin, 21, aus Seattle, sind zugegen. Berliner Austauschstudenten aus den USA. Auch Rosa, 19, und Anna, 22, aus Berlin – sowie Janko, 17, und seine Freundin Pauline, 16. Für den 18-jährigen Nikita mit mittellangen, dunkelblonden Haaren, aus der Ukraine, ist es sogar das erste Konzert seines Lebens, wie er uns erzählt. Alles wegen Artemas.

Riesige Spannung also, als der zypriotische Brite von gerade mal 23 Jahren, die Bühne im Berliner Kesselhaus besteigt an diesem draußen kalten Frühlingsdonnerstagabend. Obergeschoss, Maschinenhaus. Rund 200 Leute passen ins lauschige Ost-Berliner Backsteingemäuer rein. Rot und blau bestrahlt. Eigentlich viel zu wenige. Denn Artemas ist zurzeit der meistgehypte Überflieger-Musiker der Welt: Nicht „nur“ Platz 1 der deutschen Single-Charts hat Artemas in dieser Woche erklommen; nein, eben jener Song, „I Like The Way You Kiss Me“, ist gerade das (hört, hört!) meistgespielte Lied der Welt. Der Welt, richtig, nicht weniger als das. Vor Ariana Grande, Beyoncé und Taylor Swift und allen anderen sowieso.

Porno-Schnauzer, Vokuhila, Klunker-Ohrring, braune Lederjacke, so tritt Artemas in Berlin auf. Schwarzes, mit drei weißen Balken dekoriertes Adidas-Korn-Metalband-Fanshirt. Es ist kurz nach 21 Uhr und Artemas legt los mit „Enemies“, derweil er die Bühnenrampe von links nach rechts und wieder umgekehrt........

© Berliner Zeitung


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