Personen auf hohen Schuhen, mit Netzstrumpfhosen, Lack und Leder oder eine Nonne mit weißem Gesicht: Sexarbeiter haben am Samstag gegen die Stigmatisierung ihres Berufsstands und das Nordische Modell demonstriert. Neben Redebeiträgen soll mit künstlerischen Performances, Live-Musik, Infoständen und direkten Gesprächen mit Politikern vor Ort auf die schwierige Lage aufmerksam gemacht werden.

Sexuelle Dienstleistungen gegen Entlohnung sollen legal bleiben. Das fordern die Teilnehmer auf dem Neptunplatz vor dem Roten Rathaus. Anlass für die Demonstration sind politische Debatten um ein Sexkaufverbot.

Das Nordische Modell nach schwedischem Vorbild sanktioniert den Kauf sexueller Dienstleistungen, die Sexarbeiter bleiben hingegen straffrei. Sie lehnen das Modell jedoch strikt ab, wie im Gespräch mit den Teilnehmern deutlich wird.

„Das Nordische Modell ist eine Mogelpackung“, sagt Madame Kali, eine queere Sexarbeiterin, Domina und Tantra-Masseurin. Sie ist Teil des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V. (BesD). Die 52-Jährige mit den roten Lippen und der schwarzen Korsage sitzt in der Lounge, in der sich Interessierte mit Sexarbeitern austauschen können. „Wir beißen nicht“, steht auf einem Schild vor dem Pavillon. Madame Kali findet es problematisch, einen Berufsstand in die Illegalität zu drücken. „Unter dem Deckmantel, dass wir durch die Gesetze geschützt werden, passiert eigentlich das Gegenteil. Die Arbeit wird gefährlicher.“ Arbeit unter riskanteren Bedingungen erhöht die Gefahr von Gewalt und Ausbeutung.

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Auch das Prostitutionsgesetz von 2002 sieht die studierte Erziehungswissenschaftlerin aus Bielefeld kritisch. Seit der Einführung des Gesetzes durch die rot-grüne Koalition ist Prostitution in Deutschland nicht mehr sittenwidrig, sondern gilt als normales Gewerbe. Ziel war es, die rechtliche und soziale Lage der Prostituierten zu verbessern. Es passierte jedoch genau das Gegenteil, sagt Madame Kali: „Es stehen so viele auf der Kurfürstenstraße, weil sie nicht mehr in die umliegenden Wohnungen dürfen. Das verschlimmert ihre Situation.“ Die Arbeit verlagere sich in den Untergrund.

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In den Gesprächen wird viel über Stigmata gesprochen, mit denen Sexarbeiter konfrontiert sind. Lucien Lafayette, einer der drei Organisatoren, sagt: „Wir werden gesellschaftlich vorverurteilt. So wird gesagt, dass alles, was wir tun, moralisch verwerflich sei oder dass wir Geschlechtskrankheiten hätten. Oft wird uns aberkannt, dass wir den Beruf freiwillig machen.“

Auf einmal wird es laut auf dem Platz vor dem Roten Rathaus. Der Bass, der aus den Boxen wummert, verstummt. Es werden die ersten Reden verlesen. Belgien wird als Vorbild genannt, als Exempel. Belgien hat als erstes Land in Europa Prostitution aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Das belgische Gesetz zur Prostitution aus dem Jahr 2022 sieht auch vor, dass gegen den Missbrauch von Prostituierten streng vorgegangen wird. Dieser Bereich des Gesetzes richtet sich gegen Zuhälter und andere Personen, die Frauen und Männer zur Prostitution gegen deren Willen zwingen.

Auf dem Platz üben Rednerinnen scharfe Kritik an dem deutschen Prostitutionsgesetz und der Anmeldepflicht. Es könne Nachteile für Sexarbeiter geben, persönliche Daten preisgeben zu müssen, sagt die Rednerin.

Das Prostitutionsgesetz sieht unter anderem eine Meldepflicht für Sex-Arbeiter vor. Die Anmeldebescheinigung, die alle zwei Jahre verlängert werden muss und mit Namen, Meldeadresse und einem Foto versehen sein soll, müssen die Prostituierten mit sich führen – und damit ihre Anonymität aufgeben. Ein weiteres Problem: Viele Sexarbeiter kommen aus dem Ausland und haben keine deutsche Meldeadresse. Für sie ist es schwer, das Gewerbe anzumelden.

Nach Daten des Statistischen Bundesamts arbeiten 28.280 Sexarbeiterinnen in Deutschland. Diese Frauen sind nach dem Prostituiertenschutzgesetz offiziell gemeldet. Die Dunkelziffer liegt deutlich darüber.

In den Mittagsstunden, als die Sonne heiß auf die Köpfe brennt, strömen viele Personen vom Alexanderplatz dorthin, von wo die Musik kommt. Viele Männer beobachten das Treiben. In der Mitte der Menge steht eine Pole-Stange, bisher unbenutzt. Die Tanzdemo soll bis in den Abend gehen.

An einem Informationsstand steht ein Mann im chromefarbenen Kondom-Kostüm und verteilt Informationsmaterialien und Kondome vom Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung. „Wir bieten Hilfe und Unterstützung bei geplanter und ungewollter Schwangerschaft, Verhütung, aber auch bei Tests auf Geschlechtskrankheiten.“, sagt eine Mitarbeiterin am Stand. „Und das ohne moralische Wertung.“

Einige Passanten bleiben stehen, andere tanzen. Es werden Schilder in die Höhe gehalten. „Blowjobs sind richtige Jobs“ steht auf einem. Rote Schirme setzen Akzente. Der rote Regenschirm ist das Symbol für die Sexarbeit – weltweit. Zwei junge Frauen, Anfang 20, stehen mit Schirmen in der Menge. Sie wollen ihre Namen nicht in der Zeitung lesen, da sie Konsequenzen befürchten. Eine der Frauen arbeitet seit einem halben Jahr als Domina, die andere möchte den Einstieg wagen. Was sie tun möchte? „Bilder meines wunderschönen Körpers verkaufen.“

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In der hinteren Reihe steht ein Mann, der eine medizinische Mund-Nasen-Maske trägt. Er ist unauffällig gekleidet, trägt eine blaue Cap und einen grauen Rucksack. Er zuckt zusammen, als er angesprochen wird. Er möchte anonym bleiben - deshalb auch die Maske im Gesicht. „Ich habe Paranoia, dass ich irgendwo auf Video- oder Bildmaterial zu sehen bin und Probleme bekomme.“ Der Grund: Er ist ein Kunde. „Ich wäre vom Nordischen Modell direkt betroffen, wenn es zum Sexkaufverbot kommen sollte.“ Ginge es für ihn im Untergrund weiter? Der Mann ist noch unsicher: „Ich weiß noch nicht, ob ich dann geheim zu jemandem gehen würde.“

Sven Kernn, ein großgewachsener Mann mit langen Haaren und rotem Stirnband, macht Fotos von den Demonstrationsplakaten. Er habe selbst mal im Rotlicht gearbeitet, als Nebenjob. „Ich war Mädchen für alles, habe aber vor allem gefahren und fotografiert.“ Hauptberuflich ist er Mitarbeiter in einer Psychiatrie, hat viel mit Sexualstraftätern zu tun. Er ist bei der Demonstration, um Solidarität mit den Sexarbeitern zu zeigen. „Meine Ziehmutter war Bordellbetreiberin. Ich wurde früh mit dem Thema vertraut gemacht.“

Toni Nolde steht mit ihrem Fahrrad inmitten der Tanzenden und schaut in die Menge. „Ich bin keine Sexarbeiterin“, sagt sie, als sie angesprochen wird. Die Studentin ist zu der Demo gekommen, weil sie einen Film über das Thema gedreht hat. „Es ist wichtig, dass Menschen, die nicht Sexarbeiter sind, Gesicht zeigen für diejenigen, die es nicht können.“

QOSHE - Sexarbeiter tanzen für ihre Rechte: „Blowjobs sind richtige Jobs“ - Stella Tringali
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