Die Hände schweben unsicher über der Tastatur, üblicherweise fällt es mir nicht schwer, eine Kolumne für die Berliner Zeitung zu schreiben.

Mein Gehirn ist, wenn ich schreibe, wie ein Tuschkasten: Ich wähle aus, womit ich zeichnen will, welche Farbe ich verwende, ich entscheide mich vor dem Schreiben, welchen Pinsel ich nehmen will.

Manchmal will ich provozieren, weiß, wie ich bei Twitter und Facebook die Gemüter erhitze, schreibe über Corona oder über die Impfung. Manchmal will ich aber auch einfach nur ein Gefühl erzeugen, die Wärme einer Jahreszeit in den Köpfen der Lesenden entstehen lassen, das Gefühl von feinfüßigen Insekten, die im Volkspark Friedrichshain auf einem Handrücken landen, ich will davon erzählen, wie es sich anfühlt, plötzlich eine Nichte zu haben, oder wie sich mein Bezirk verändert. Ich erzähle von früher, für heute. Das macht mich glücklich, diese Texte machen glücklich.

Es war nie schwer, ein Thema zu finden, aber nun, zum allerersten Mal, fällt es mir schwer. Jedoch nicht, weil ich eine Blockade habe, nein, es ist einfach zu viel. Egal wohin ich blicke, sehe ich ein Thema, und mein Kopf ist zum ersten Mal nicht in der Lage, den richtigen Pinsel, die richtige Farbe auszuwählen. Das zu tun, was meine Aufgabe als Journalist ist: zu erkennen, was relevant ist. Ich habe das Gefühl, alles ist mittlerweile relevant, und sobald ich ansetze zu schreiben, scheine ich etwas zu vergessen.

So viel vor, so wenig Zeit: Warum mich der Frühling in Berlin unruhig werden lässt

28.04.2024

Thilo Mischke: Pazifismus, Filterkaffee – und eine Luftdruckpistole in Brandenburg

16.03.2024

Ich schreibe das hier in einem Hotelzimmer in New York, ich schreibe das, nachdem ich schon drei Kolumnen geschrieben und wieder verworfen habe.

Einen Text über Donald Trumps Prozess, dann einen Text über die weißen, männlichen Boomer, die versuchen, ihr letztes Aufbegehren zu manifestieren, indem sie Frauen und allen anderen Menschen, die nicht sind wie sie, das Leben verbieten.

09.05.2024

gestern

09.05.2024

Dann habe ich einen dritten Text geschrieben: über meine kommunistische Oma, die mit mir 1996 nach New York reiste, um zu verstehen, was Träumen mit Freiheit zu tun hat.

Aber keiner dieser Texte hat mir gefallen, ich habe sie alle verworfen. Weil da so viel ist, über das ich eigentlich schreiben müsste.

Ich müsste über Franziska Giffey schreiben, die angegriffen wird, über den Mann, der ihr in den Nacken schlägt, während sie ihrer Arbeit nachgeht. Über die Angst der Politiker an ihren Ständen, nachdem der SPD-Politiker Matthias Ecke ins Krankenhaus geprügelt wurde. Ich müsste darüber schreiben, dass jüdische Studenten in den Niederlanden mit Holzlatten verprügelt wurden, dass plötzlich ein Lied massenhaft von meinen Freunden auf Instagram geteilt wird, dessen Text voller antisemitischer Äußerungen ist. Ich müsste eigentlich darüber schreiben, dass Israel nicht am ESC teilnehmen kann, ohne sich einem Boykott zu stellen.

Thilo Mischke: Der dritte Weltkrieg wird in unseren Köpfen ausgefochten

02.03.2024

Wann darf meine Generation endlich übernehmen und die Gesellschaft neu gestalten?

03.02.2024

Ich müsste darüber schreiben, wie diese Welt in Hass ertrinkt und jeder, der hasst, glaubt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Diese richtige Seite, über diese müsste ich schreiben, weil ich gerne wüsste, wo sie wäre, damit ich endlich einen Ort finden kann, an dem Ruhe herrscht. Wie wunderbar muss es auf der richtigen Seite sein. Wie herrlich still muss es an dem Ort sein, an dem ich ohne Zweifel sagen kann: Ich habe recht.

Ich müsste eine Kolumne darüber schreiben, dass der Krieg in der Ukraine ein Krieg der Zahlen geworden ist. Wieviele Raketen liefert wer, wieviele Menschen sterben wo.

Ich müsste darüber schreiben, dass ein Freund in der Ukraine nicht in den Krieg ziehen will, darüber, dass Rafah nicht angegriffen werden darf, darüber, dass ich immer mehr das Gefühl habe, dass Hass das Riechsalz des 21. Jahrhunderts geworden ist. Wir saugen diesen Hass wütend ein, weil wir nichts mehr spüren. Weil wir verlernt haben zu fühlen, weil Empathie keine Errungenschaft mehr ist, sondern ein Hindernis.

Eigentlich müsste ich darüber schreiben, wie schön New York ist, wie ich davon träumte, hier zu leben, damals in den Neunzigern. Es gäbe so viel zu erzählen, das Wärme erzeugt, das ein schönes Gefühl am Sonnabend in den Händen jener erzeugt, die diese Zeitung, diese Kolumne lesen.

Aber erst muss wieder weniger sein, damit ich mehr erzählen kann.

QOSHE - Jeder hasserfüllte Mensch glaubt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen - Thilo Mischke
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Jeder hasserfüllte Mensch glaubt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen

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11.05.2024

Die Hände schweben unsicher über der Tastatur, üblicherweise fällt es mir nicht schwer, eine Kolumne für die Berliner Zeitung zu schreiben.

Mein Gehirn ist, wenn ich schreibe, wie ein Tuschkasten: Ich wähle aus, womit ich zeichnen will, welche Farbe ich verwende, ich entscheide mich vor dem Schreiben, welchen Pinsel ich nehmen will.

Manchmal will ich provozieren, weiß, wie ich bei Twitter und Facebook die Gemüter erhitze, schreibe über Corona oder über die Impfung. Manchmal will ich aber auch einfach nur ein Gefühl erzeugen, die Wärme einer Jahreszeit in den Köpfen der Lesenden entstehen lassen, das Gefühl von feinfüßigen Insekten, die im Volkspark Friedrichshain auf einem Handrücken landen, ich will davon erzählen, wie es sich anfühlt, plötzlich eine Nichte zu haben, oder wie sich mein Bezirk verändert. Ich erzähle von früher, für heute. Das macht mich glücklich, diese Texte machen glücklich.

Es war nie schwer, ein Thema zu finden, aber nun, zum allerersten Mal, fällt es mir schwer. Jedoch nicht, weil ich eine Blockade habe, nein, es ist einfach zu viel. Egal wohin ich blicke, sehe ich ein Thema, und mein Kopf ist zum ersten........

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