Als ich von einer Reise aus den USA zurückkehre, ist der Frühling in Berlin angekommen. Mich überrascht das immer wieder, wenn sich Berlin scheinbar über Nacht häutet. Die Jahreszeit abwirft wie eine alte, zu enge Haut.

In den letzten 15 Jahren habe ich immer wieder die Ankunft des Frühlings verpasst, weil ich oft unterwegs bin Anfang des Jahres. Immer wenn ich wiederkam, bin ich damals mit dem Auto vom Flughafen in Tegel nach Friedrichshain gefahren, heute fahre ich von Schönefeld in meinen Bezirk.

Damals sah ich die grünen Bäume im Westen, heute in Treptow. Und jedes Mal wundere ich mich über die Plötzlichkeit des Frühlings. Die Blätter, die schwer an den Ästen hängen, die warme Luft, die durch den Spalt im Fenster ins Auto kommt, die veränderten Gesichter, die wie meine Heimatstadt die Traurigkeit des Winters abgelegt haben. Alles ist verändert und alles hat einen fast unerträglichen Willen zum Tatendrang in sich. Ein „Jetzt aber wirklich“ als Gefühl, wie Pollen schwebt es durch die Stadt.

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Früher, da habe ich im Frühling angefangen, Pläne zu machen und darüber nachzudenken, wie ich das Jahr gestalten will. Heute will ich nur sitzen. An der Spree oder in Brandenburg, am liebsten zu Hause. Das ist kein Symptom des Älterwerdens, das ist eine Reaktion auf die Geschwindigkeit dieser Welt. Ein Rückzug aus dem Lärm unserer Wirklichkeit.

gestern

26.04.2024

gestern

Immer wieder finde ich es erstaunlich, dass meine Heimat Berlin für mich Ruhe bedeutet, diese Stadt, die für andere Aufregung darstellt. Was für andere die Extravaganz ist, ist für mich Alltag. Das Grab von Oma in Reichweite, meine Eltern gegenüber, der Bruder und die Schwägerin, die kleine Nichte, die ein Mensch geworden ist. All diese Leben, die wie Gleise nebeneinander verlaufen und sich manchmal überkreuzen. Alles hier, in nächster Nähe. Und alle fühlen ähnlich.

Die Jahreszeiten, die in ihrer Zartheit brutal daran erinnern, dass die Zeit vergeht. Ich werde dafür empfänglicher, je älter ich werde.

Der Frühling erinnert mich auch daran, dass es noch so viel zu tun gibt, bis ich sitzen kann. Bis Zeit für Stille ist, muss das Leben noch mit Lärm gefüllt werden, denke ich, als ich mich in die Sonne Berlins drehe, die Augen schließe, hörbar durch beide Nasenlöcher ein und ausatme.

So viel vor, so wenig Zeit. Denke ich und denke an ungeschriebene Bücher, an unerzählte Geschichten, denke an Mails, die ich schreiben will, an Reiseziele und Themen für Podcasts, an alles, was noch zu erledigen ist.

In der Sonne sitzend, in meiner Straße, die Beine übereinandergeschlagen, den Kaffee in der Hand, höre ich über meine Kopfhörer laut Techno und frage mich: Ja, was gibt es eigentlich noch zu erledigen? Wer setzt am Ende den Haken hinters Leben? Bin ich das? Oder ist es das, was ich geschaffen habe? Was mein Kopf und meine Hände und meine Ungeduld erschaffen haben? Alles Fragen, die der Frühling in mir auslöst, alles Fragen, die ich nur mir selbst beantworten kann.

„Schrecklich“, denke ich. Und danke dem Frühling in Berlin dafür, dass er mich das denken lässt, dass er mich zwingt, darüber nachzudenken, was wichtig ist, welche Reihenfolge eingehalten werden sollte in dieser Sache, die ich Leben nenne.

Und während ich da sitze, in dieser Sonne, in meiner Stadt, der Kaffee ausgetrunken, der Techno wieder leise, frage ich mich, welche Jahreszeit für mich angebrochen ist. Ich blicke in mich hinein, erinnere mich an all die Aufgaben, die es gibt, fühle den Hochsommer in meinem Leben. Fühle, dass da noch einiges kommt, und weiß: Jede Jahreszeit lädt zum Sitzen ein. Ich muss es nur tun.

QOSHE - So viel vor, so wenig Zeit: Warum mich der Frühling in Berlin unruhig werden lässt - Thilo Mischke
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So viel vor, so wenig Zeit: Warum mich der Frühling in Berlin unruhig werden lässt

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28.04.2024

Als ich von einer Reise aus den USA zurückkehre, ist der Frühling in Berlin angekommen. Mich überrascht das immer wieder, wenn sich Berlin scheinbar über Nacht häutet. Die Jahreszeit abwirft wie eine alte, zu enge Haut.

In den letzten 15 Jahren habe ich immer wieder die Ankunft des Frühlings verpasst, weil ich oft unterwegs bin Anfang des Jahres. Immer wenn ich wiederkam, bin ich damals mit dem Auto vom Flughafen in Tegel nach Friedrichshain gefahren, heute fahre ich von Schönefeld in meinen Bezirk.

Damals sah ich die grünen Bäume im Westen, heute in Treptow. Und jedes Mal wundere ich mich über die Plötzlichkeit des Frühlings. Die Blätter, die schwer an den Ästen hängen, die warme Luft, die durch den Spalt im Fenster ins Auto kommt, die veränderten Gesichter, die wie meine Heimatstadt die Traurigkeit des Winters abgelegt haben. Alles ist verändert und alles hat einen fast unerträglichen Willen........

© Berliner Zeitung


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