„Kannst du denn überhaupt kontieren?“, fragt mich meine Mutter an einem dieser unentschlossenen Morgen im Januar. In der linken Hand trägt sie einen Kaffee vom vietnamesischen Spätverkauf. In der rechten Hand trägt sie ihre Handtasche, und im Gesicht, ja im Gesicht trägt sie Sorgen.

„Mach dir keine Gedanken“, sage ich zu meiner Mutter und meine das auch so. Oft genug lüge ich meine Eltern an, wenn es um Sorgen geht, aber diesmal meine ich es.

In der Petersburger Straße läuft ein Mann ohne Hose an uns vorbei, er bleibt mit dem Fuß in den Straßenbahnschienen hängen, und ich frage mich, ob dieser Winter zu ihm freundlich sein wird. In der Proskauer Straße, Ecke Frankfurter Allee fällt ein Kind in eine Pfütze, meine Mutter und ich lachen kurz. Und dann wird es wieder ernst. Denn ich übernehme die Buchhandlung. Das haben wir jetzt so entschieden, mein Bruder, mein Vater, meine Mutter und ich. Mein Bruder, der ja Ingenieur ist und mit seinem Beruf und seiner Familie genug zu tun hat, besitzt keine Kapazitäten, um eine Buchhandlung zu führen. Mein Vater will eigentlich nur noch mit Jules Verne an den Boden der Weltmeere reisen, und meine Mutter will endlich ihre Ruhe.

Ein Sozialdemokrat fragt sich: Wovon träumen Faschisten?

20.01.2024

Nur wer sich nicht sorgt, kann anderen das Leben verbieten

09.12.2023

35 Jahre Kapitalismus haben das Leben aus meiner Mutter geschürft, haben ihr den Schlaf genommen und haben so getan, als wäre da was, am Ende. Als würde, wenn man alt ist, der Kapitalismus einen dafür belohnen, dass man ihm gedient hat, so brav und ohne Widerspruch. Aber nein, am Ende kommt einfach noch mehr Angst. Sie sagt das auch so direkt. Und es macht mich traurig, wenn ich weiß, dass meine Mutter, die nie Angst hatte, plötzlich Angst hat. Vor dem Altsein, vor dem Geld, vor dem Alleinsein. Gemein, denke ich. Wenn wir uns ausruhen dürfen, werden wir wach gehalten, von Sorgen, gegen die wir nichts machen können. Wenn wir jung sind, sorgen wir uns um Dummes, aber Wichtiges: Kommen wir in den Club, bekommen wir den Job, kann ich mir den Pullover leisten, ist da noch genug Geld für Zigaretten und Schnaps. Das sind die Sorgen der Jugend gewesen. Lösbare Probleme. Aber dann, wenn endlich alles gut sein sollte, sorgen wir uns um Unlösbares.

Alt sein, Vorsorge und Gesundheit. Die Tatsachen des Lebens sind doch eigentlich Tatsachen des Überlebens. Das sind natürlich alles Gedanken, die ich nicht habe, während ich mit meiner Mutter über die Übernahme der Buchhandlung spreche. Da denke ich, was man alles machen kann mit der Franz-Mehring-Buchhandlung, die älteste Buchhandlung Ost-Berlins, bald 80 Jahre alt.

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31.01.2024

gestern

30.01.2024

Die Jungen, die auch schon langsam alt werden, übernehmen jetzt die Stadt. Die letzten Berliner, die ein Geschäft ihrer Eltern übernehmen, kommen jetzt. Und ich frage mich, ob sich das nicht auf die ganze Stadt anwenden ließe? Vielleicht sogar aufs ganze Land? Meine Mutter will alles neu machen, alles anders, will das Internet ausprobieren, Veranstaltungen organisieren, ja sogar einen Buchklub und einen Podcast gründen, wenn ich die Buchhandlung übernommen habe.

Da ist sie anders als die anderen Alten, die sich fest an ihre Position klammern, die denken, das, was früher war, ist das, was zukünftig geschehen soll. Unser seltsamer Bürgermeister, der eine Autobahn durch die Stadt bauen will, der Fahrradwege abschafft und grundsätzlich zwar milde, aber unpassend christdemokratisch für diese Stadt ist. Oder, schlimmer, Friedrich Merz, der verbal zungenküssend mit Faschisten eine Politik vorschlägt, die sich zwischen Menschenfeindlichkeit und Langeweile bewegt. Bloß nichts ändern, bloß keine Risiken eingehen.

Wann bieten diese Menschen an, dass wir dran sind, wann dürfen wir endlich übernehmen und dann eine Politik machen, eine Gesellschaft gestalten, die uns und denen, die nach uns kommen, gefällt? Friedrich Merz könnte von meiner Mutter lernen, wie man mit der jungen Generation umgeht. Er müsste sich nur dafür interessieren. Zusammen die Zukunft gestalten.

„Ich bin so aufgeregt“, sagt meine Mutter. Und ihre Wangen sind rot, nicht von der Kälte, sondern von der Freude. „Was wir zusammen gestalten können“, sagt sie. Und mich besorgt das überhaupt nicht, sondern ich freue mich darauf.

„Dann kannst du ja auch kontieren und weitermachen wie immer“, sage ich zu ihr, hake mich ein. „Und ich habe den Kopf frei für den Rest.“

Thilo Mischke über Abschiebungen: Es ist gefährlich, unsere Werte zu verraten

28.10.2023

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Wann darf meine Generation endlich übernehmen und die Gesellschaft neu gestalten?

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03.02.2024

„Kannst du denn überhaupt kontieren?“, fragt mich meine Mutter an einem dieser unentschlossenen Morgen im Januar. In der linken Hand trägt sie einen Kaffee vom vietnamesischen Spätverkauf. In der rechten Hand trägt sie ihre Handtasche, und im Gesicht, ja im Gesicht trägt sie Sorgen.

„Mach dir keine Gedanken“, sage ich zu meiner Mutter und meine das auch so. Oft genug lüge ich meine Eltern an, wenn es um Sorgen geht, aber diesmal meine ich es.

In der Petersburger Straße läuft ein Mann ohne Hose an uns vorbei, er bleibt mit dem Fuß in den Straßenbahnschienen hängen, und ich frage mich, ob dieser Winter zu ihm freundlich sein wird. In der Proskauer Straße, Ecke Frankfurter Allee fällt ein Kind in eine Pfütze, meine Mutter und ich lachen kurz. Und dann wird es wieder ernst. Denn ich übernehme die Buchhandlung. Das haben wir jetzt so entschieden, mein Bruder, mein Vater, meine Mutter und ich. Mein Bruder, der ja Ingenieur ist und mit seinem Beruf und seiner Familie genug zu tun hat, besitzt keine Kapazitäten, um eine Buchhandlung zu führen. Mein Vater will eigentlich nur noch mit Jules Verne an den Boden der Weltmeere reisen,........

© Berliner Zeitung


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