Internationale, grenzüberschreitende Veranstaltungen symbolisieren überstaatliche Gemeinsamkeiten: eine vereinende Kultur, ein geteiltes Ethos, gemeinsame Ideale. Mit den neuzeitlichen Olympischen Spielen um 1900 in einer europäisch geprägten, europäisch dominierten Welt nahm die Fiktion verbindender Werte weltumspannend Gestalt an. Welt- und Kontinentalmeisterschaften in den meisten Sportarten folgten.

Nach den beiden Weltkriegen und noch einmal nach dem Ende des Kalten Krieges um 1990, getrieben von Friedenssehnsucht und technischem Fortschritt, triumphierte das völkerverbindende Ideal. Ihm verdanken sich die Europäische Union ebenso wie die (inzwischen verdorrte) Vision eines Europas von Lissabon bis Wladiwostok. Die Vereinten Nationen und die Menschenrechtscharta sind Ausformungen eines planetarischen Universalismus.

1956 riefen die Rundfunkanstalten in sieben westeuropäischen Staaten den Grand Prix Eurovision de la Chanson ins Leben, 2002 in Eurovision Song Contest umbenannt. Die Bundesrepublik war von Anfang an dabei. Heute sind es mehr als 50 Teilnehmerländer.

Doch die Hoffnung, dass der Wunsch nach Frieden und Verständigung im Zeichen der Popkultur die Herzen verbindet, ist trügerisch. Alter Hass bricht sich neue Bahn. Archaisch-kollektive, längst überwunden geglaubte Reflexe: Wer für einen Staat singt, muss sich für diesen Staat verantworten. Sippenhaft und Ur-Emotionen, übersetzt in unsere Zeit: das antike „Kreuzige, kreuzige ihn“, das mittelalterliche „Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen“. Hässlicher als bei den antiisraelischen Demonstrationen in Malmö und an den amerikanischen und europäischen Universitäten, widerlicher als bei den Ausschreitungen des „Kalifats“ in Hamburg und Berlin hat die primitive Fratze ihren Hass lange nicht gezeigt.

Die israelische Sängerin Eden Golan durfte ihr Hotelzimmer nicht verlassen, wurde mit dem Hubschrauber zum Veranstaltungsort geflogen. Allein für ihr Durchhalten, ihre duldsame Hartnäckigkeit im Angesicht der geifernden Masse verdient die 20-jährige den Respekt und die Sympathien der Anständigen.

09.05.2024

gestern

•vor 4 Std.

Verloren hat vor allem Schweden. Zwei Jahrhunderte lang der Inbegriff von Neutralität, Toleranz und Friedfertigkeit – nichts scheint geblieben zu sein. In ganz Europa bricht der dünne Firnis der Sonntagsreden. Das „Nie wieder“ ist nur noch billiger Politikersprech, heiße Luft, taugt nicht einmal mehr als Beschwörung. Oder die Lüge vom Antisemitismus, der in Deutschland angeblich „keinen Platz“ habe. Und ob er den hat, und zwar in den Herzen und auf den Lippen. Biodeutsche und Zugewanderte, Rechte und Linke, keine Gruppe ist gefeit.

Und es geht nicht nur um Antisemitismus. Das ganze System unserer Lebenslügen, die wir so gern moralisch nennen, gerät ins Wanken. Ist das gerecht, fragen die einen: Russland wird ausgeschlossen, und Israel darf mitsingen? Die anderen fragen andersherum. Ist das gerecht: Israel darf mitsingen und Russland nicht?

Europa leidet an einer Banalisierung der Moral. Sie ist zur wohlfeilen Münze geworden, inflationär, zur Maskerade für Mitleid und Selbstmitleid. Bilder von toten Kindern am Mittelmeerstrand zwingen zu angeblich moralischer Parteinahme, auch die Todeszahlen in Kriegen und Konflikten. Zugleich sind Mitleid und Selbstmitleid selektiv. Wer protestiert gegen das zehntausendfache Sterben junger Ukrainer und Russen an der Front? Ist das Existenzrecht der Ukraine (in den Augen der vielen Tausend propalästinensischen Demonstranten) doch größer als dasjenige Israels?

Eurovision Song Contest: Zu viel Brimborium, zu wenig Sound

10.05.2024

Schweiz startet sofort mit Vorbereitungen für den ESC 2025

•vor 2 Std.

Der Lichtblick bei der diesjährigen ESC-Entscheidung war die Punktevergabe durch das Publikum. Während Eden Golan bei den Kultureliten (geschätzter Opportunisten-Anteil: 90 Prozent) nur auf Platz zwölf kam, landete die israelische Sängerin beim Publikum auf dem zweiten Platz hinter Kroatien. Populistisch vereinfacht beschreibt das Ergebnis die gesellschaftliche Frontstellung unserer Tage: der „normal tickende“ europäische Mensch auf der einen Seite, eine sich als „woke“ gebärdende, in antiisraelischem, antieuropäischem und antiweißem Selbsthass gefangene wissenschaftlich-kulturelle Blase auf der anderen.

Die populistische Vereinfachung hilft auch, die Ausweglosigkeit solcher Lage zu erkennen. Geht es nach den „woken“ Maßstäben, dann bricht die Welt entzwei. Dann ist der ESC in Zukunft so unmöglich wie Frieden zwischen Russland und der Ukraine. Dann wird es keine Olympiaden mehr geben und keine Welt- oder Europameisterschaften. Nur noch einen dystopischen Kampf zwischen den Rechthabern und Rechthaberinnen aller Mehr- und Minderheiten.

Noch ist es nicht zu spät. Aber ganz Europa muss erkennen: Auf diesem Kontinent ist etwas schwer aus dem Lot. Dazu allerdings braucht die Gesellschaft Repräsentanten, die mehr liefern als hohle Worte und heiße Luft. Der ESC kann ein Weckruf sein, aber dem Weckruf muss ein Begreifen folgen.

QOSHE - Ganz Europa ist schwer aus dem Lot: Der ESC kann ein Weckruf sein - Thomas Fasbender
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Ganz Europa ist schwer aus dem Lot: Der ESC kann ein Weckruf sein

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12.05.2024

Internationale, grenzüberschreitende Veranstaltungen symbolisieren überstaatliche Gemeinsamkeiten: eine vereinende Kultur, ein geteiltes Ethos, gemeinsame Ideale. Mit den neuzeitlichen Olympischen Spielen um 1900 in einer europäisch geprägten, europäisch dominierten Welt nahm die Fiktion verbindender Werte weltumspannend Gestalt an. Welt- und Kontinentalmeisterschaften in den meisten Sportarten folgten.

Nach den beiden Weltkriegen und noch einmal nach dem Ende des Kalten Krieges um 1990, getrieben von Friedenssehnsucht und technischem Fortschritt, triumphierte das völkerverbindende Ideal. Ihm verdanken sich die Europäische Union ebenso wie die (inzwischen verdorrte) Vision eines Europas von Lissabon bis Wladiwostok. Die Vereinten Nationen und die Menschenrechtscharta sind Ausformungen eines planetarischen Universalismus.

1956 riefen die Rundfunkanstalten in sieben westeuropäischen Staaten den Grand Prix Eurovision de la Chanson ins Leben, 2002 in Eurovision Song Contest umbenannt. Die Bundesrepublik war von Anfang an dabei. Heute sind es mehr als 50 Teilnehmerländer.

Doch die Hoffnung, dass der Wunsch nach Frieden und Verständigung im Zeichen der Popkultur die Herzen verbindet, ist trügerisch. Alter Hass bricht sich neue Bahn.........

© Berliner Zeitung


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