Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass man diesen Platonow am Ende, nachdem man ihm schon unzählige Male verziehen hat und immer wieder von ihm niedergemacht wurde, noch bedauert! Er hat sämtliche Leute seiner sozialen Umgebung innerhalb einer Nacht ihrer Würde und ihrer Lebenslust beraubt, wenn sie denn welche hatten. Und das gilt nicht nur für die verstreuten Seelen in der russischen Provinz, sondern auch für das Publikum beim Theatertreffen!

Es ist doch nur gerecht, dass er am Ende verklagt, verlassen, von der Rampe gerollt und erschossen wird – und zwar jeweils von einer der starken, selbstbewussten und blühenden Frauen, die er nach Strich und Faden betrogen hat. Beziehungsweise: denen gegenüber er in jedem Augenblick rücksichtslos ehrlich war – in seiner rettungslosen Liebe und in seinem Überdruss, in den diese Liebe schon umschlägt, noch während er sie erklärt. Reißt sich und seinem Gegenüber (und uns!) spontan das Herz aus und schiebt ihm (und uns!) seine schnelle, von Selbst- und Weltekel zerfressene Zunge ins Ohr. Klar, und am Ende jubelt das Haus der Berliner Festspiele.

Das Theatertreffen kommt mit „Riesenhaft in Mittelerde“ endlich ins Spiel

09.05.2024

Viereinhalb Stunden grinst, meckert und weint sich Joachim Meyerhoff als Hauptheld durch Tschechows frühen dramatischen Versuch „Die Vaterlosen“, der auch unter dem Titel „Platonow“ firmiert. Meyerhoff schöpft all die schöne Aufmerksamkeitssahne und Identifizierungsenergie ab und offenbart damit in der aus München eingeladenen Inszenierung von Jette Steckel auch auf der Metaebene die strukturelle Ungerechtigkeit des Narzissten, der für seine Selbstbestätigung über Leichen geht und am Ende völlig ungeniert als Opfer dasteht oder daliegt. Oder, wie Anna Petrowna in ihrer Entrüstung klagt, „immer noch an der Rampe klebt wie ein Fettfleck“.

09.05.2024

gestern

•vor 2 Std.

Die ganze Abstauberei funktioniert so herrlich nur, weil es eben keine Soloshow ist, sondern eine kraftvolle und spielwache Ensembleleistung in einem Wald aus nackten Stangen (Florian Lösche). Die Frauen, gespielt von Wiebke Puls, Katharina Bach, Abel Haffner und Edith Saldanha, verschenken sich auf so kämpferische, aufgeklärte, hoffnungsvolle, liebesdurstige wie chancenlose Weise an Platonow, dass es ein Jammer ist. Das Mannsvolk – Edmund Telgenkämper, Bernardo Arias Porras, Walter Hess, Martin Weigel und Thomas Schmauser – löst mit Bravour die undankbare Aufgabe, gegen Platonow abzustinken und dabei immer tiefer in den Treibsand männlicher Klischees zu rutschen.

Demokratie und Machtdemonstration: Claudia Roth und Ulrich Rasche eröffnen das Theatertreffen

03.05.2024

Das Bühnenpatriarchat wird noch ergänzt durch ein selbstironisches Altherren-Talkformat, bei dem sich der Dramaturg Carl Hegemann alte weiße Männer zum inspirierten Brabbeln einlädt – bei der Premiere auf dem Theatertreffen war der Ethnologe Thomas Hauschild zu Gast. Die beiden Fremdlinge aus der Gegenwart zeigten eigentlich den festen Willen, Platonows Zynismus an sich abperlen zu lassen, doch schon bald verlangte Hauschild nach einer Waffe. Es wäre Notwehr, also moralisch geboten, aber doch unverzeihlich, Platonow über den Haufen zu schießen, bevor er uns nach allen Regeln der Kunst in den Abgrund reißt.

Theatertreffen noch bis zum 20. Mai, Karten und Informationen unter www.berlinerfestspiele.de

QOSHE - Jubel über dem Abgrund für „Die Vaterlosen“ beim Theatertreffen - Ulrich Seidler
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Jubel über dem Abgrund für „Die Vaterlosen“ beim Theatertreffen

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12.05.2024

Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass man diesen Platonow am Ende, nachdem man ihm schon unzählige Male verziehen hat und immer wieder von ihm niedergemacht wurde, noch bedauert! Er hat sämtliche Leute seiner sozialen Umgebung innerhalb einer Nacht ihrer Würde und ihrer Lebenslust beraubt, wenn sie denn welche hatten. Und das gilt nicht nur für die verstreuten Seelen in der russischen Provinz, sondern auch für das Publikum beim Theatertreffen!

Es ist doch nur gerecht, dass er am Ende verklagt, verlassen, von der Rampe gerollt und erschossen wird – und zwar jeweils von einer der starken, selbstbewussten und blühenden Frauen, die er nach Strich und Faden betrogen hat. Beziehungsweise: denen gegenüber er in jedem Augenblick rücksichtslos ehrlich war – in seiner rettungslosen Liebe und in seinem Überdruss, in den diese Liebe schon umschlägt, noch........

© Berliner Zeitung


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