Mehr als ein halbes Jahr nach dem brutalen Terrorüberfall der Hamas hat der erste führende Vertreter des israelischen Sicherheitsapparats die Konsequenzen gezogen. Der Chef des Militärgeheimdienstes, Aharon Haliva, erklärte seinen Rücktritt. Die Dienste hätten ihre Aufgabe nicht erfüllt, sagte er. Der „schwarze Tag“ laste auf seinem Gewissen.

Halivas Rücktritt war keine große Überraschung, weil er schon früh persönlich Verantwortung übernommen hatte. In absehbarer Zeit könnten ihm weitere folgen, etwa von Armeechef Herzi Halevi und dem Chef des Inlandsgeheimdienstes Ronen Bar. Ein anderer Mann aber, unter dessen Führung das Land so unvorbereitet wie hilflos getroffen wurde, will von persönlichen Fehlern bis heute nichts wissen: Benjamin Netanjahu scheint es nicht zu berühren, dass Zehntausende Israelis immer wütender einen neuen Ministerpräsidenten fordern.

Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Verantwortung für den 7. Oktober, vor dem Netanjahu offenkundig unzählige Warnungen ignoriert hatte. Seit Monaten schlingert der machthungrige Ministerpräsident weitgehend planlos durch einen Krieg, in dem er nur wenige Erfolge vorweisen kann, dafür umso mehr Misserfolge: Der Gazastreifen ist weitgehend zerstört, und es gibt eine neue Eskalationsstufe mit dem Erzfeind Iran.

Bis heute ist es seiner Regierung nicht gelungen, die mehr als hundert verschleppten Männer, Frauen und Kinder zu befreien, die sich noch immer in den Händen der Hamas befinden. Siebzig von ihnen seien durch israelische Luftangriffe getötet worden, sagte der entführte Hersh Goldberg-Polin in einer Videobotschaft, die die Hamas verbreitete. Man kann davon ausgehen, dass der junge Mann zu der Aufnahme gezwungen wurde. Doch auch ohne die Propaganda der Terrororganisation ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass viele der Geiseln nach mehr als 200 Tagen Gefangenschaft ohne medizinische Versorgung und inmitten andauernder Kämpfe nicht mehr am Leben sind.

Dass Netanjahu weniger an Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch als an einer Offensive auf Rafah interessiert ist, machen ihm vor allem die Angehörigen der Verschleppten zum Vorwurf. Aber auch aus militärischer Sicht ist bislang schwer abzusehen, wie viel durch den anstehenden Angriff auf die Grenzstadt überhaupt zu erreichen ist. Fest steht, dass Netanjahu dadurch nicht nur die humanitäre Katastrophe in Gaza weiter befeuert, sondern auch ein Zerwürfnis mit seinen westlichen Partnern und dem Nachbarland Ägypten riskiert. Dass im Zuge einer Offensive die letzte Bastion der Hamas fallen würde, ist dagegen keinesfalls ausgemacht. Die immer wieder aufflammenden Kämpfe im Norden des Gazastreifens zeigen, dass die israelische Armee in den vermeintlich eingenommenen Gebieten kaum in der Lage ist, die Kontrolle aufrechtzuhalten. Und selbst wenn sie es könnte: Einen Plan, wie es danach weitergehen soll, bleibt Netanjahu schuldig.

Für Netanjahu sind in der Regel die anderen Schuld. Nach dem 7. Oktober schoss er gegen Armee und Sicherheitsdienste, den Demonstranten im eigenen Land wirft er vor, mit ihren Protesten der Hamas zu dienen. Nachdem die Vereinigten Staaten jüngst ankündigten, ein Bataillon der israelischen Armee mit Sanktionen zu belegen, sprach der Ministerpräsident von einem „Gipfel der Absurdität“ und einem „moralischen Tiefpunkt“. Er werde „mit aller Kraft dagegen kämpfen“, sagte er – womit selbstverständlich die Überlegungen der Vereinigten Staaten gemeint waren und nicht die Tatsache, dass die betreffende Einheit unter seiner Führung seit Jahren ungestört Menschenrechtsverletzungen gegen Palästinenser im Westjordanland begeht.

Auch die deutsche Außenministerin bekam nach ihrem letzten Besuch in Israel zu spüren, mit welch ausgeklügelten Spielchen der Ministerpräsident bisweilen versucht, den Spieß umzudrehen. Berichte, die offensichtlich aus Netanjahus Umfeld durchgestochen wurden, vermittelten den Eindruck, Annalena Baerbock habe Fotos von gut gefüllten Märkten in Gaza als Fälschung bezeichnet. Der Ministerpräsident ließ sich daraufhin öffentlichkeitswirksam mit der Aussage „Wir sind nicht wie die Nazis“ zitieren.

Das Auswärtige Amt stellte schnell klar, dass Baerbock zwar darauf hingewiesen hatte, dass die Realität in weiten Teilen des Gazastreifens anders aussehe, aber keinesfalls von Fälschungen gesprochen hatte. Doch da war die Geschichte schon in der Welt. Wenn es darum geht, von der eigenen Verantwortung abzulenken, ist dem israelischen Ministerpräsidenten so ziemlich jedes Mittel recht.

QOSHE - Für Netanjahu sind immer die anderen Schuld - Franca Wittenbrink
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Für Netanjahu sind immer die anderen Schuld

9 1
28.04.2024

Mehr als ein halbes Jahr nach dem brutalen Terrorüberfall der Hamas hat der erste führende Vertreter des israelischen Sicherheitsapparats die Konsequenzen gezogen. Der Chef des Militärgeheimdienstes, Aharon Haliva, erklärte seinen Rücktritt. Die Dienste hätten ihre Aufgabe nicht erfüllt, sagte er. Der „schwarze Tag“ laste auf seinem Gewissen.

Halivas Rücktritt war keine große Überraschung, weil er schon früh persönlich Verantwortung übernommen hatte. In absehbarer Zeit könnten ihm weitere folgen, etwa von Armeechef Herzi Halevi und dem Chef des Inlandsgeheimdienstes Ronen Bar. Ein anderer Mann aber, unter dessen Führung das Land so unvorbereitet wie hilflos getroffen wurde, will von persönlichen Fehlern bis heute nichts wissen: Benjamin Netanjahu scheint es nicht zu berühren, dass Zehntausende Israelis immer wütender einen neuen Ministerpräsidenten fordern.

Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Verantwortung für den 7. Oktober, vor dem Netanjahu offenkundig unzählige Warnungen ignoriert hatte. Seit Monaten schlingert der machthungrige Ministerpräsident weitgehend planlos durch........

© Frankfurter Allgemeine


Get it on Google Play