Himmel, waren Sie auch so gerührt? Dieses überirdische Schauspiel, das flackende Lila überm Horizont, die Nacht, die in einen Schleier aus Hoffnung gehüllt war? Kann heute wieder passieren, das ganze Wochenende, sagen Wissenschaftler. Lila ist die Farbe der Hoffnung, sagt wiederum die Farbpsychologie, aber auch die Farbe der Trauer. Auf jeden Fall wird der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit in Lila geführt, das ist Hoffnung genug. Hoffnung auf Vernunft. Und Vernunft ist Philosophie, ist Immanuel Kant.

In seiner Kritik der praktischen Vernunft, in der Kant unsere Chancen ausmalte, mit der Vernunft zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, womit er im Prinzip auch allen Menschen so etwas wie eine angeborene Vernunftfähigkeit zuschrieb, umriss der Sattlerssohn aus Königsberg dieselbe in den aller schönsten, unvergesslichen Sentenzen: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."

Der heftigste Sonnensturm der letzten zwanzig Jahre war für viele jetzt Anlass genug, das Firmament ehrfurchtsvoll in den Blick zu nehmen – und die Kraft der Sonne am Nachthimmel zu preisen. G5, auf der Skala der geomagnetischen Stürme ist das extrem. Und nur zur Klarstellung: Mit der Telekommunikation hat diese 5G-Kategorie nur insofern etwas zu tun, als die bei der zugrundeliegenden gewaltigen Sonneneruption erdwärts stürmenden Teilchen theoretisch die größten Probleme in den Transformatoren und der Satellitenortung bereiten können.

Sechzehnmal so groß wie der Erddurchmesser war das flackernde Gebiet auf der Sonnenoberfläche, das den Sonnensturm auslöste. Ein Sonnenfleckengigant. Wer es weiter so profan mag, dem sei gesagt: Grünes Leuchten am Atmosphärenrand wäre normal, Lila hat viel mit der Heftigkeit des Ausbruchs zu tun, mit der exorbitanten Geschwindigkeit des Teilchensturms und mit der Position des Polarlichts über dem Horizont.

Aber zurück von der Physik zu Kants ehrfurchtgebietendem „Was kann ich wissen?“ und dem noch viel vernünftigeren: „Was kann ich tun?". Denn ist es nicht das, was hinter den sinnlichen Wirkungen der Aurora borealis (bei uns im Norden) und der Aurora australis (auf der Südhalbkugel) so herrlich lila bis grün funkelt: das Glück der Sonne überhaupt, der Segen der Lebensspende auf Erden?

Heute Nachmittag, an diesem Samstag also, zwischen zwei seltenen aurorabeseelten Nächten, wird in Deutschland der Strom – nicht zum ersten Mal – zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt. Heißt: Sonne und Wind lassen es mächtig brummen, wir nutzen hundertprozentig Ökostrom. Wir ernten, was wir säen. Und ob wir die Energiewende nun schätzen oder nicht, spielt keine Rolle, die Sonne ist gnädig an diesem Frühsommerwochenende, Tag und Nacht.

Mit der Vernunft in dieser Zeit ist das allerdings so eine Sache: In dem Tagesabschnitt nämlich, in dem sie die gewaltige Kraft der Sonne ernten, gehen unsere emsigen Energiewirte leider leer aus. Ab Mittag gibt es stundenlang einen Stromüberrschuss, der zu negativen Preisen führt. Negativ heißt: die Solarstromproduzenten und Windparks speisen den Ertrag der segensreichen Sonnenenergie kostenlos ins Netz. Geregelt ist dieses Marktversagen in Paragraph 51 des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes von 2023: „Verringerung des Zahlungsanspruchs bei negativen Preisen“.

Wie der Überschuss abzubauen wäre, wissen 300 Jahre nach Kants Geburtstag längst alle, die es wissen müssten: Elektrifizierung im großen Stil, Netze massiv ausbauen, Speicherkapazitäten aufbauen und eine smarte Steuerung des Stromverbrauchs. Kein Hexenwerk heute, mit KI, Innovation, etc. – sollte man meinen. Kant mit Konsequenz, das wäre die Lösung. Und einen festen, freien Willen. Womit wir auch wieder bei Kant wären, Gott habe ihn selig.

QOSHE - Das lila Leuchten am Kantschen Himmel - Joachim Müller-Jung
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Das lila Leuchten am Kantschen Himmel

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11.05.2024

Himmel, waren Sie auch so gerührt? Dieses überirdische Schauspiel, das flackende Lila überm Horizont, die Nacht, die in einen Schleier aus Hoffnung gehüllt war? Kann heute wieder passieren, das ganze Wochenende, sagen Wissenschaftler. Lila ist die Farbe der Hoffnung, sagt wiederum die Farbpsychologie, aber auch die Farbe der Trauer. Auf jeden Fall wird der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit in Lila geführt, das ist Hoffnung genug. Hoffnung auf Vernunft. Und Vernunft ist Philosophie, ist Immanuel Kant.

In seiner Kritik der praktischen Vernunft, in der Kant unsere Chancen ausmalte, mit der Vernunft zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, womit er im Prinzip auch allen Menschen so etwas wie eine angeborene Vernunftfähigkeit zuschrieb, umriss der Sattlerssohn aus Königsberg dieselbe in den aller schönsten, unvergesslichen Sentenzen: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das........

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