Eines kann man sagen – es wird nicht langweilig mit der Deutschen Bahn. Immer wieder lässt sich das Team neue Überraschungen für die Fahrgäste einfallen, die noch bereit sind, aufgrund mangelnder Alternativen sich einem weiteren Personenbeförderungsversuch der DB auszusetzen.

Am vergangenen Montag zum Beispiel fuhr der ICE 279, der morgens um 7.08 Uhr von Berlin nach Basel abfahren sollte, bereits um 6.58 Uhr ab – zehn Minuten vor der ­geplanten Abfahrtszeit.

Das war im Reich der Megaverspätung mal eine gute Pointe, Hunderte von Reisenden standen ungläubig auf dem Bahnsteig und sahen fassungslos den roten Rückleuchten zu, die wie die böse funkelnden Augen eines hinterhältigen Monsters im Tunnel Richtung Süden verglühten.

Ein alter Mann bekam sichtbar Bluthochdruck und holte mit zitternden Händen sein Telefon aus der Tasche. Zwei Teenager mit sehr großen Rucksäcken brachen in Tränen aus, sie riefen ihre Mutter an: „Mama, der Zug ist zu früh abgefahren. Doch . . . Mama . . . Nein, wir sind nicht zu spät, Mama . . . einfach zu früh abgefahren, ja . . .“

Auf den Displays keine Information, der Zug war verschwunden. Im Reisecenter schrie ein rotköpfiger Mitarbeiter die hereinströmenden ratlosen Nichtreisenden des zu früh abgefahrenen ICE 279 an, sie sollten sich gefälligst hinten an die dreißig Personen lange Schlange anstellen.

Hätte man den Gesamtblutdruck des Bahnhofs an diesem Morgen gemessen, hätte man das gesamte Personal, Bahnangestellte wie stehen gelassene Reisende, komplett in die Notaufnahme des nahen Charité-Krankenhauses verlegen können. Nur der Herr am Eingang in die Bahn-Lounge schüttelte den Kopf, als er die verfrühte Abfahrt bestätigte, und ließ ein paar Verzweifelte zum kostenlosen Kaffee durch.

In Japan muss sich der Lok­führer, wenn er nur wenige Minuten zu spät eintrifft, bei allen Fahrgästen durch tiefe Verbeugungen entschuldigen. Von Germanen, die versuchen, eine mit Menschen ­gefüllte Metallröhre auf zwei langen Metallstangen durch ihre ­Wälder und Täler zu bugsieren, kann man das natürlich nicht erwarten – aber wie wäre es dann, ­liebe Bahn, wenigstens mit einer netten Durchsage, so in der Art von: „Liebe Leute, hier spricht eure Bahn. Wir sind solche Deppen. Es tut uns so irre leid. Wir wissen, ihr habt gestern nicht mit eurem Freund in seinen Geburtstag reinfeiern können, weil der Zug statt um 22 Uhr erst morgens um eins ankam. Wir wissen, ihr seid heute früh aufgestanden, habt euren noch schlafenden Kindern ins Ohr geflüstert, ihr müsst leider heute ­allein zur Schule, weil ich den frühen Zug um 7 nehmen muss, und dann steht ihr um neun immer noch auf dem Bahnhof. Wir wissen all das, und es tut uns so leid, dass wir euch eure Lebenszeit stehlen und euch im Bordrestaurant mit noch halb durchgefrorenem planted chicken vergiften.“

Es wäre eine Geste.

Stattdessen nur der Befehl „Hinten anstellen!“. Wie soll das mit der Verkehrswende eigentlich klappen, wenn das Einzige, woran man auf einem Bahnhof morgens um sieben gern und sehnsüchtig denkt, eine schöne, freie Autobahn ist?

QOSHE - Zu früh abfahren ist auch daneben - Niklas Maak
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Zu früh abfahren ist auch daneben

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12.05.2024

Eines kann man sagen – es wird nicht langweilig mit der Deutschen Bahn. Immer wieder lässt sich das Team neue Überraschungen für die Fahrgäste einfallen, die noch bereit sind, aufgrund mangelnder Alternativen sich einem weiteren Personenbeförderungsversuch der DB auszusetzen.

Am vergangenen Montag zum Beispiel fuhr der ICE 279, der morgens um 7.08 Uhr von Berlin nach Basel abfahren sollte, bereits um 6.58 Uhr ab – zehn Minuten vor der ­geplanten Abfahrtszeit.

Das war im Reich der Megaverspätung mal eine gute Pointe, Hunderte von Reisenden standen ungläubig auf dem Bahnsteig und sahen fassungslos den roten Rückleuchten zu, die wie die böse funkelnden Augen eines hinterhältigen Monsters im Tunnel Richtung Süden........

© Frankfurter Allgemeine


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