Es war 3.30 Uhr am Morgen. Tel Aviv war immer noch warm vom Vortag. Nach Pessach hatte es eine Hitzewelle gegeben, die einen ganz sanft auf den Sommer vorbereitete. 40 Grad im Schatten. Drei Tage lang. Die israelische Sanftmut eben.

Unser Fahrer Gavriel sagte liebevoll »Boker tov«. Meine Tochter antwortete höflich, und ich half ihm, unser Gepäck in den Kofferraum zu heben. Dann stiegen wir ein und fuhren durch die leeren Straßen, die nur zwei Stunden später so voll sein würden, dass man keine Lust hatte, sich überhaupt in einem Auto fortzubewegen.

Gavriel wollte wissen, wann und wohin unser Flug geht, und als ich ihm sagte, dass wir zurück nach Berlin fliegen würden, wollte er wissen, wie die Lage in der Galut aktuell sei. Ich antwortete »Shit« und sah sofort, wie sich sein Kopf mit seiner Kippa wissend auf und ab bewegte. »Hashem wants all the Jews to come back now«, erklärte er dann, und es war das erste Mal, dass jemand etwas sagte, das ich seit Monaten insgeheim gedacht hatte.

Die letzten zehn Jahre habe ich zwischen Berlin und Tel Aviv verbracht. Wenn ich am Flughafen gefragt werde, wie oft ich schon in Israel war, kann ich nur noch hochrechnen, weil es unmöglich ist, eine genaue Zahl zu nennen. Gerade die letzten anderthalb Jahre waren aufgrund des politischen Klimas nicht einfach. Das Land zerstritten und zerrissen. Ein Oberhaupt, das nicht weiß, wann man besser geht, und Nachbarländer, die einen von der Landkarte fegen wollen.

Objektiv spricht vieles gegen Israel als Zufluchtsstätte. Sehr, sehr vieles. Und wenn man mit Israelis spricht, dann kann man ob des Missmuts und Pessimismus selbst missmutig und pessimistisch werden. Was allerdings ein Fehler wäre. Denn den meisten Israelis fehlt es an zwei Dingen: einem Verständnis dafür, was Antisemitismus ist, und einem Gefühl dafür, was es bedeutet, als Minderheit unter einer Mehrheit zu leben. Das hat zu fehlender Dankbarkeit für dieses Land geführt.

Während also viele Israelis die meiste Zeit von der Galut träumen, träumen viele Diaspora-Juden von Israel. Zwei Bewegungen der Sehnsucht in entgegengesetzte Richtungen. Was die Israelis mittlerweile erahnen, ist, dass die beste Zeit in der Galut vorüber ist. Die französischen Juden haben es uns vorgemacht. Und wir werden es ihnen nachmachen.

Es braucht Israel. Wir brauchen Israel. Und zwar mehr denn je.

Das ist meine Zukunftsprognose: In zehn Jahren wird die Hälfte der Diaspora-Juden die Diaspora verlassen haben. Und das ist richtig so. Das heißt nicht, dass wir sofort unsere Siebensachen zusammenpacken und alles in einen Container laden müssen, aber wir sollten uns ernsthaft fragen, für wen oder für was wir uns hier eigentlich täglich abkämpfen. Danken wird es uns niemand. Genauso wie man den deutschen Juden die kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften, die sie erarbeitet haben, 1933 auch nicht gedankt hat.

Wir haben uns die vergangenen 70 Jahre den Mund fusselig geredet und den Deutschen Antisemitismus, den Holocaust und uns selbst erklärt. Wir haben Steuern an einen Staat gezahlt, der uns, das ist meine Überzeugung, nicht schützen wird, wenn es darauf ankommt. Und wir haben uns ein Leben aufgebaut, das radikale Linke am liebsten »enteignen« wollen, wie es schon ihre Urgroßeltern forderten.

Seit nunmehr sieben Monaten frage ich mich, ob ich will, dass meine Tochter zukünftig in der Schule als »Zionistin« beschimpft wird oder über einen Haufen Palästinensertuch-tragender Spinner steigen muss, um in ihr Universitätsgebäude zu gelangen. In einer Welt, in der die angeblich progressiven Weltverbesserer selig und selbstsicher »There is only one solution, Intifada Revolution« rufen, ist das Leben von Juden nicht mehr lebenswert.

Aber lebenswert ist, sich mit Freunden bei Ceviche und Sauvignon Blanc in ein Tel Aviver Restaurant zu setzen und über die politische Weltlage diskutieren zu können, ohne dass jemand am Tisch das Existenzrecht Israels infrage stellt. Lebenswert ist, Teil dieses genialen Staates zu werden, der in der Neuauflage nur 75 Jahre alt ist, aber mehr erfolgreiche Start-ups vorzuweisen hat, als Berlin es jemals haben wird. Lebenswert ist, Menschen um sich zu haben, die einen lieben und hassen werden, aber eben wie Familie und nicht wie ein Feind. Und lebenswert ist, morgens das Fenster zu öffnen, das Meer zu riechen oder sogar zu sehen und zu wissen, dass dieser Ort nicht ohne Grund seit Jahrtausenden umkämpft ist.

Wir müssen zukünftig in diesen Staat investieren, mit allen Mitteln – unserem Geist und unserem Körper – und damit in uns Juden. In das jüdische Volk. Dieser Staat wird uns irgendwann retten, so wie er Hunderttausende einst äthiopische Juden, misrachische Juden, ost-, west- und südeuropäische Juden gerettet hat. Denn es braucht Israel. Wir brauchen Israel. Mehr denn je.

Die Sonne ging auf. Der Taxifahrer fuhr langsam an der Flughafen-Sicherheit vorbei, die ihn sofort durchwinkte, und dann vor den Haupteingang. Meine Tochter und ich stiegen aus, er übergab uns die Koffer und sagte zum Abschied: »Nächstes Jahr in Jerusalem!«, und ich antwortete: »Nächstes Jahr in Jerusalem!«

Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in Berlin und Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihr das Buch »Von Juden lernen« (dtv).

QOSHE - Nächstes Jahr in Jerusalem - Bettina Piper
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Nächstes Jahr in Jerusalem

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12.05.2024

Es war 3.30 Uhr am Morgen. Tel Aviv war immer noch warm vom Vortag. Nach Pessach hatte es eine Hitzewelle gegeben, die einen ganz sanft auf den Sommer vorbereitete. 40 Grad im Schatten. Drei Tage lang. Die israelische Sanftmut eben.

Unser Fahrer Gavriel sagte liebevoll »Boker tov«. Meine Tochter antwortete höflich, und ich half ihm, unser Gepäck in den Kofferraum zu heben. Dann stiegen wir ein und fuhren durch die leeren Straßen, die nur zwei Stunden später so voll sein würden, dass man keine Lust hatte, sich überhaupt in einem Auto fortzubewegen.

Gavriel wollte wissen, wann und wohin unser Flug geht, und als ich ihm sagte, dass wir zurück nach Berlin fliegen würden, wollte er wissen, wie die Lage in der Galut aktuell sei. Ich antwortete »Shit« und sah sofort, wie sich sein Kopf mit seiner Kippa wissend auf und ab bewegte. »Hashem wants all the Jews to come back now«, erklärte er dann, und es war das erste Mal, dass jemand etwas sagte, das ich seit Monaten insgeheim gedacht hatte.

Die letzten zehn Jahre habe ich zwischen Berlin und Tel Aviv verbracht. Wenn ich am Flughafen gefragt werde, wie oft ich schon in Israel war, kann ich nur noch hochrechnen, weil es unmöglich ist, eine genaue Zahl zu nennen. Gerade die letzten anderthalb Jahre waren aufgrund des politischen Klimas nicht einfach. Das........

© Juedische Allgemeine


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