Wie relevant sind die Geschichten und Gebote der Tora heute noch? Diese provokante Frage ist berechtigt, schließlich lernt man häufig nur als Kind im Religionsunterricht über die eigene Religion. Im Erwachsenenalter hingegen fehlen zuweilen das Interesse und die Zeit. Daher liegt eine zentrale Herausforderung für alle Rabbinerinnen und Rabbiner (unabhängig von der jeweiligen Strömung) darin, die eigene Gemeinde für die Tora zu interessieren.

Im letzten Drittel des Wochenabschnitts Acharej Mot geht es darum, welchen Vorbildern man lieber nicht folgen sollte. »Es sprach der Ewige zu Mosche: ›Sprich zu den Israeliten und sage ihnen: Ich, der Ewige, bin euer Gott. Nach dem Verfahren des Landes Ägypten, in dem ihr gewohnt habt, sollt ihr nicht handeln, und nach dem Verfahren des Landes Kanaan, wohin Ich euch bringe, sollt ihr nicht handeln und sollt in ihren Satzungen nicht wandeln.‹«

Weder das Verhalten der Ägypter noch das der Einwohner Kanaans sollen sich die Israeliten zum Vorbild nehmen – im Gegenteil: Es ist ihnen gar verboten, so zu handeln! Um den Ernst der Bestimmungen hervorzuheben, heißt es: »Ich, der Ewige, bin euer Gott.« Diese Worte erinnern, so der Kommentar von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888), an die ersten Worte der Zehn Gebote, wo es heißt: »Ich bin der Ewige, dein Gott.«

In den Zehn Geboten lesen wir sowohl über Gebote, die der Mensch gegenüber Gott einzuhalten hat, als auch über Gebote, die er gegenüber seinen Mitmenschen halten soll. In Kapitel 18 des Wochenabschnitts wird zunächst einmal darauf hingewiesen, wie sich die Israeliten nicht verhalten sollen – sowohl gegenüber Gott als auch gegenüber den Mitmenschen.

Gegenüber Gott sollen sie sich nicht so verhalten, weil die Ägypter fremde Gottheiten verehrt haben. So heißt es im 2. Buch Mose 12,12 in Bezug auf die zehnte Plage, das Sterben der Erstgeborenen: »Ich (Gott) ziehe durch das Land Ägypten in dieser Nacht und erschlage jeden Erstgeborenen im Land Ägypten von Menschen bis Vieh, und an allen Göttern Ägyptens übe Ich Gericht, Ich, der Ewige.« Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) schreibt, dass es sich um Götzen aus Holz und Metall gehandelt habe.

Gegenüber den Mitmenschen sollen sich die Israeliten nicht wie die Ägypter verhalten, weil diese die Versklavung eines Volkes, das ein Pharao einst eingeladen hatte, in Ägypten zu wohnen, ohne Protest akzeptieren. Im 2. Buch Mose 1,8 heißt es, dass »ein neuer König über Ägypten« kam. Hirsch schreibt: »Dies bezeichnet auf keinen Fall einen gewöhnlichen, gesetzmäßigen Thronwechsel (…). Es scheint daher die alte Dynastie gestürzt, Volk und Land in andere Hände übergegangen, eine fremde Dynastie von außen über Ägypten gekommen zu sein.« Betrachtet man nur diese Stelle, so scheint das Schweigen der Ägypter verständlich. Sie könnten durch den neuen Herrscher verunsichert gewesen sein. Allerdings spricht der Pharao später zu den Ägyptern und kündigt die Versklavung der Israeliten an.

Dass der Pharao dies den Ägyptern mitteilt, sich also vor seinem Volk rechtfertigt, zeigt, dass es seinerseits wohl eine gewisse Unsicherheit gab, wie die Ägypter auf die Versklavung der Israeliten reagieren würden. Ansonsten hätte er es nicht anzukündigen brauchen. Dennoch folgt keine Reaktion der Ägypter.

So ein Verhalten sollte für die Israeliten nicht beispielhaft sein. Im Gegenteil, im 3. Buch Mose 19,34 heißt es: »Wie der Eingeborene unter euch sei euch der Fremde, der bei euch weilt, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn Fremde wart ihr im Land Ägypten.«

Anders als die Ägypter, die ihre Fremden (die Israeliten) entsetzlich behandelt haben, sollen die Israeliten sogar den Fremden lieben. Der italienische Gelehrte Samuel David Luzzatto (1800–1865) schreibt: »Du sollst dich ihm gegenüber so verhalten, wie du als Fremder von anderen Menschen erwarten würdest, dass sie sich dir gegenüber verhalten sollen.«

Der Wochenabschnitt betont, dass auch das Verhalten der Einwohner Kanaans für die Israeliten kein Vorbild sein sollte. Dies bezieht sich, so der Kommentar von Nachmanides, dem Ramban (1194–1270), vor allem auf die Beziehungen, die die Kanaaniter untereinander eingingen und die im weiteren Verlauf des Kapitels verboten werden, etwa sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern. Dies sollte keinesfalls von den Israeliten übernommen werden.

Schließlich heißt es, »und sollt in ihren Satzungen nicht wandeln«. Die »Satzungen« bezeichnen die Regeln, wie der einstige britische Oberrabbiner Joseph Herman Hertz (1872–1946) in seinem Kommentar schreibt, »welche das Leben des Volkes regeln«. Im Hebräischen wird das Wort »Uw’chukotehem« benutzt – das kommt von »Chukim«. In der Tora sind dies Gebote, die sich logisch nicht unbedingt begründen lassen. Auf die Satzungen der Ägypter und Kanaaniter angewandt, könnten dies Regeln sein, deren Sinn sich nicht erschließt.

Was sagen uns diese Verse heute? Sie zeigen uns, dass unser Verhältnis Gott und unseren Mitmenschen gegenüber ständige Aufmerksamkeit braucht. Hat sich beispielsweise das gleichgültige Verhalten der Ägypter gegenüber den Israeliten nicht an anderer Stelle in der Weltgeschichte wiederholt? Es mag leichter fallen, wegzusehen, wenn anderen Unrecht angetan wird – schließlich meint man, selbst nicht betroffen zu sein. Heutzutage mag dies ein Krieg in Europa sein, der weit weg scheint, uns aber alle betrifft. Doch die Geschichte der Ägypter zeigt, dass das Leid einen schließlich selbst finden kann – bei den Ägyptern waren es die Zehn Plagen, die nicht nur den Pharao, sondern alle Ägypter getroffen haben. Darum ist es keine gute Option wegzuschauen.

Es ist wichtig, die Geschichten und Gebote der Tora stets mit den Herausforderungen der Gegenwart zu verbinden. So werden aus biblischen Geschichten, die man vielleicht aus der Kindheit kennt, aktuelle und relevante Texte – denn man wird in der Tora eine oder mehrere Antworten auf (fast) jede Frage finden. Man muss nur danach suchen.

Der Autor ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Der Wochenabschnitt Acharej Mot beginnt mit Anordnungen zu Jom Kippur. Dann werden weitere Speisegesetze übergeben, wie etwa das Verbot des Blutgenusses und das Verbot des Verzehrs von Aas. Den Abschluss bilden verbotene Ehen wegen zu naher Verwandtschaft und Regelungen zu verbotenen sexuellen Beziehungen.
3. Buch Mose 16,1 – 18,30

QOSHE - Schau hin! - Bettina Piper
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03.05.2024

Wie relevant sind die Geschichten und Gebote der Tora heute noch? Diese provokante Frage ist berechtigt, schließlich lernt man häufig nur als Kind im Religionsunterricht über die eigene Religion. Im Erwachsenenalter hingegen fehlen zuweilen das Interesse und die Zeit. Daher liegt eine zentrale Herausforderung für alle Rabbinerinnen und Rabbiner (unabhängig von der jeweiligen Strömung) darin, die eigene Gemeinde für die Tora zu interessieren.

Im letzten Drittel des Wochenabschnitts Acharej Mot geht es darum, welchen Vorbildern man lieber nicht folgen sollte. »Es sprach der Ewige zu Mosche: ›Sprich zu den Israeliten und sage ihnen: Ich, der Ewige, bin euer Gott. Nach dem Verfahren des Landes Ägypten, in dem ihr gewohnt habt, sollt ihr nicht handeln, und nach dem Verfahren des Landes Kanaan, wohin Ich euch bringe, sollt ihr nicht handeln und sollt in ihren Satzungen nicht wandeln.‹«

Weder das Verhalten der Ägypter noch das der Einwohner Kanaans sollen sich die Israeliten zum Vorbild nehmen – im Gegenteil: Es ist ihnen gar verboten, so zu handeln! Um den Ernst der Bestimmungen hervorzuheben, heißt es: »Ich, der Ewige, bin euer Gott.« Diese Worte erinnern, so der Kommentar von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888), an die ersten Worte der Zehn Gebote, wo es heißt: »Ich bin der Ewige, dein Gott.«

In den Zehn Geboten lesen wir sowohl über Gebote, die der Mensch gegenüber Gott einzuhalten hat, als auch über Gebote, die er gegenüber seinen Mitmenschen halten soll. In Kapitel 18 des Wochenabschnitts wird zunächst einmal darauf hingewiesen, wie sich die Israeliten nicht verhalten........

© Juedische Allgemeine


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