Schon seit meiner Kindheit wusste ich, dass ich eine jüdische Herkunft habe. Allerdings hatten sich meine beiden Großmütter taufen lassen, als sie christliche Männer geheiratet haben. Folglich wurde meine Mutter als evangelische Christin erzogen und ich auch. Schon mit der Konfirmation aber konnte ich nicht mehr viel anfangen. Als erwachsene Frau bin ich dann zum Judentum zurückgekehrt.

Ich wurde in Mannheim geboren, aber ab meinem sechsten Lebensjahr bin ich in Leinfelden in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen, weil mein Vater eine Stelle in der Landesbibliothek bekommen hatte.

In Mannheim hatte meine Familie im Haus meiner Großmutter gewohnt, die nach der Nazi-Definition während der NS-Zeit in einer »privilegierten Mischehe« gelebt hatte und deren Kinder nach dieser Lesart »Halbjuden« waren. Von unserer jüdischen Herkunft wusste ich schon sehr früh und auch, dass Hitler »die Juden nicht gemocht hat«. So jedenfalls war die Formulierung meiner Mutter, als ich vier Jahre alt war. Außerhalb der Familie hatte sie niemanden, mit dem sie über ihre Erlebnisse während des Krieges reden konnte.

Als ich in die Mikwe stieg, hatte ich das Gefühl, endlich angekommen zu sein.

Mit mir aber sprach sie nicht nur über unsere Herkunft, sondern auch über das Judentum und darüber, was es für sie bedeutet hat, in der NS-Zeit eine Ausgeschlossene zu sein. Sie hat, als das noch möglich war, in Italien studiert, weil den »Halbjuden« die deutschen Universitäten schon verschlossen waren. Meine Oma hingegen hielt sich bei diesem Thema immer bedeckt. Und auch meine Mutter hat später mit meinen beiden jüngeren Schwestern nicht mehr so ausführlich über all das gesprochen. Da hatte sie offenbar kein solch ausgeprägtes Bedürfnis mehr danach, wie das bei mir der Fall war, die ich nur sieben Jahre nach der Schoa zur Welt gekommen bin.

Nach dem Abitur bin ich für drei Monate nach Israel gegangen und habe im Kibbuz Ramat Yohanan nördlich von Haifa gearbeitet. Das war eine tolle Zeit, die ich mit jugendlichen Volontären aus aller Welt verbrachte. Den Schabbat verbrachten wir mit unseren jeweiligen Kibbuz-Eltern. Es war kurz vor dem Jom-Kippur-Krieg. Und im Jahr darauf war ich wieder da. Bei meinem ersten Aufenthalt gab es noch keinen Kabbalat Schabbat, im Jahr darauf – also nach dem Krieg – aber schon. Das fand ich bemerkenswert.

Nach meiner Rückkehr habe ich in Heidelberg begonnen, Romanistik und Geschichte zu studieren, aber nach dem Staatsexamen war ich arbeitslos, wie viele ausgebildete Lehrer damals. Deshalb habe ich auch noch die Hochschule für Jüdische Studien besucht. Da war ich längst aus der Kirche ausgetreten, um auch institutionell zu den jüdischen Wurzeln zurückkehren zu können. Ich bin dann in Heidelberg regelmäßig in die Jüdische Gemeinde gegangen, wo ich mich von Anfang an sehr wohlgefühlt habe. Und obgleich ich offiziell noch nicht konvertiert war, habe ich bereits den Jüdischen Studentenverein geleitet.

Das Studium an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg hat mir insofern viel gegeben, als ich mich ganz intensiv mit der jüdischen Religion beschäftigen konnte. Wir studierten die Tora, den Talmud und haben nicht nur das biblische Hebräisch, sondern auch das moderne Iwrit gelernt. Da hatte ich bereits Vorkenntnisse, da ich noch als Gymnasiastin gemeinsam mit meiner Mutter einen Iwrit-Kurs in Stuttgart besucht hatte. Der war von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit angeboten worden.

Als ich in Heidelberg studierte, lernte ich dort Rabbiner Nathan Peter Levinson kennen, der auch der Vorsitzende der Deutschen Rabbinerkonferenz war. Ihm hatte ich meine Familiengeschichte erzählt, und er empfahl mir, den ganz normalen Weg der Konversion zu beschreiten. Bei ihm und dem Mannheimer Kantor Rosenfeld habe ich schließlich den Giur-Kurs besucht.

Im Jahr 1978, da war ich 26 Jahre alt, wurde ich in Stuttgart von einem Beit Din, in dem neben Levinson auch der baden-württembergische Landesrabbiner Bloch und ein amerikanischer Militärrabbiner saßen, ins Judentum aufgenommen. Als ich in die Mikwe stieg, geschah dies mit dem Gefühl, endlich angekommen zu sein. Drei Jahre später lernte ich an der jüdischen Hochschule meinen Mann kennen, der damals noch Christ war. Er wurde aber von allen akzeptiert. Da er Vergleichende Religionswissenschaften studierte, kannte er sich natürlich sehr gut im Judentum aus.

Ursprünglich hatte er vor, in den kirchlichen Dienst einzutreten. Die evangelische Kirche aber erklärte ihm in den 80er-Jahren unverblümt, dass dies ausgeschlossen sei, wenn er eine Jüdin heirate. So war es nur eine Frage der Zeit, bis auch er zum Judentum konvertierte. Da wir nun beide arbeitslos waren, sind wir dreieinhalb Jahre in Mannheim Taxi gefahren. Nebenher hat sich jeder von uns mit einem Praktikum und mit Seminaren auf eine Zukunft im Buchhandel vorbereitet.

Wir hatten vor, eine Buchhandlung zu übernehmen. Uns war empfohlen worden, dass dies vorteilhafter sei als eine Neugründung. Deshalb sind wir quer durch die Bundesrepublik gefahren, um uns Buchhandlungen anzusehen, und sind schließlich in Hildesheim gelandet. Hier waren wir dann fast 27 Jahre Buchhändler. Neben dem allgemeinen Sortiment hatten wir in unserem Geschäft eine Ecke mit Literatur jüdischer Autoren, mit Büchern zu jüdischen Themen oder auch zum Thema Holocaust. Deshalb – und vielleicht auch, weil wir Siddurim anboten – galt unser Geschäft in Hildesheim als jüdische Buchhandlung.

Als wir nach Hildesheim kamen, war unsere Gemeinde die damalige Einheitsgemeinde in Hannover. Da sind wir an jedem Erew Schabbat und zu den Feiertagen hingefahren, aber auch zu anderen Anlässen. Wenn etwa die WIZO ihre Veranstaltungen machte, sind wir mit einem großen Bücherstand vor Ort gewesen, der auch immer gut besucht war.

Als wir damals nach Hildesheim kamen, gab es in der Stadt mit uns gerade einmal fünf jüdische Bürger. Im Jahr 1997 haben wir die Jüdische Gemeinde Hildesheim gegründet. Da waren wir durch die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion dann bereits 25 Juden und Jüdinnen. Zu diesen hatte uns ein Bekannter aus der Gemeinde in Hannover den Kontakt hergestellt. Sie hatten sich zunächst bei ihm gemeldet.

Im Jahr 1997 haben wir die Jüdische Gemeinde Hildesheim gegründet.

Mein Mann hatte sich über das Vereinsrecht informiert, in den Gesetzestexten, die wir ja in der Buchhandlung hatten. Nach einem Schabbat haben wir dann im Nebenraum eines griechischen Restaurants die Hildesheimer Gemeinde gegründet. Seit 2009 haben wir ein eigenes Gemeindegebäude, in dem mein Mann immer am Freitagabend den Kabbalat Schabbat leitete. Leider wurde er schwer krank und ist 2021 verstorben. Danach habe ich bei vielfältigen Aktivitäten seinen Platz eingenommen.

Da gibt es etwa seit über 20 Jahren »Abrahams runden Tisch«, einen Zusammenschluss von Christen, zwei Bahais sowie eines Muslims und mir als Jüdin. Aktuell sehen unsere Aktivitäten so aus: Im Mai organisieren wir ein interreligiöses Friedensgebet und schon seit der Pandemie einmal im Monat eine Radiosendung in einem lokalen Hildesheimer Sender.

Darüber hinaus laden wir immer im August alle Hildesheimer zu einer Diskussionsveranstaltung zu jeweils einem Jahresthema ein. In diesem Jahr lautet es »Mensch und Familie«. Ferner bereiten wir jeden Monat Veranstaltungen vor, die mit diesem Jahresthema im weitesten Sinne zu tun haben.

Für diesen Mai habe ich die Aufgabe übernommen, über den Gedenktag für die Schoa sowie Israels Unabhängigkeits- und den Jerusalemtag zu informieren. Im Herbst sind Referenten zu Themen wie »Islam und Moderne« oder »Zwischen Religion und Algorithmen – die Zukunft der Menschen in einer KI-getriebenen Welt« eingeladen. Ich habe also eine Menge zu tun. Leider gibt es in Hildesheim keine jüdische Jugend, und die Gemeinde hat nur noch 15 Mitglieder. Es ist also zu vermuten, dass es in unserer Stadt irgendwann keine jüdische Bevölkerung mehr geben wird.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

QOSHE - Unterwegs - Bettina Piper
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28.04.2024

Schon seit meiner Kindheit wusste ich, dass ich eine jüdische Herkunft habe. Allerdings hatten sich meine beiden Großmütter taufen lassen, als sie christliche Männer geheiratet haben. Folglich wurde meine Mutter als evangelische Christin erzogen und ich auch. Schon mit der Konfirmation aber konnte ich nicht mehr viel anfangen. Als erwachsene Frau bin ich dann zum Judentum zurückgekehrt.

Ich wurde in Mannheim geboren, aber ab meinem sechsten Lebensjahr bin ich in Leinfelden in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen, weil mein Vater eine Stelle in der Landesbibliothek bekommen hatte.

In Mannheim hatte meine Familie im Haus meiner Großmutter gewohnt, die nach der Nazi-Definition während der NS-Zeit in einer »privilegierten Mischehe« gelebt hatte und deren Kinder nach dieser Lesart »Halbjuden« waren. Von unserer jüdischen Herkunft wusste ich schon sehr früh und auch, dass Hitler »die Juden nicht gemocht hat«. So jedenfalls war die Formulierung meiner Mutter, als ich vier Jahre alt war. Außerhalb der Familie hatte sie niemanden, mit dem sie über ihre Erlebnisse während des Krieges reden konnte.

Als ich in die Mikwe stieg, hatte ich das Gefühl, endlich angekommen zu sein.

Mit mir aber sprach sie nicht nur über unsere Herkunft, sondern auch über das Judentum und darüber, was es für sie bedeutet hat, in der NS-Zeit eine Ausgeschlossene zu sein. Sie hat, als das noch möglich war, in Italien studiert, weil den »Halbjuden« die deutschen Universitäten schon verschlossen waren. Meine Oma hingegen hielt sich bei diesem Thema immer bedeckt. Und auch meine Mutter hat später mit meinen beiden jüngeren Schwestern nicht mehr so ausführlich über all das gesprochen. Da hatte sie offenbar kein solch ausgeprägtes Bedürfnis mehr danach, wie das bei mir der Fall war, die ich nur sieben Jahre nach der Schoa zur Welt gekommen bin.

Nach dem Abitur bin ich für drei Monate nach Israel gegangen und habe im Kibbuz Ramat Yohanan nördlich von Haifa gearbeitet. Das war eine tolle Zeit,........

© Juedische Allgemeine


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